Innovation in der Schweizer Volksmusik
Auch wenn die Mehrheit das alte Bild noch pflegt, eine Erneuerung der Schweizer Volksmusik ist schon längst Realität. Das erweist der Blick auf die breite und höchst lebendige Volksmusikszene. Eine erweiterte Version dieses Artikels erschien im Norient-Buch Out of the Absurdity of Life (hier bestellbar).
Gibt es einen speziellen Alpensound? Um das festzustellen, benötigen wir Erinnerungsmaterial, das wir aus unserem Klanggedächtnis abrufen können. Das sind meist kollektive Erfahrungen, die uns im Laufe des Lebens begegnen und an vielfältige Assoziationen gebunden sind. Ertönt ein Hackbrett, erscheinen uns die Berge. Nicht wenige unserer ureigenen Vorstellungen von den Alpen sind an volksmusikalische Klänge gebunden. Und doch ist es nicht immer schlüssig, vor welchem Hintergrund sich eine bestimmte Musik mit einer Landschaft verbündet oder warum ausgerechnet ein Ländler so stark nach der Schweiz klingt.
Abschied von der Doktrin
Vor etwa fünfzehn Jahren begannen experimentierfreudige Musiker aller Gattungen danach zu fragen, was es mit dem musikalischen Erbe der Schweiz auf sich hat. Bewusst distanzierte man sich von der Doktrin einer verbandlich festgeschriebenen Auffassung der Schweizer Volksmusik. Antriebsmoment ihres Tuns war eine sich zunehmend durchsetzende Erkenntnis, dass die gängige Vorstellung einer Volksmusik im kollektiven Gedächtnis der deutschsprachigen Schweiz zum guten Teil eine Fiktion ist. Musiker, die um Ländlermusik bisher abschätzig einen Bogen gemacht hatten, wagten einen neugierigen Blick hinter die Kulissen offizieller volksmusikalischer Musizierpraxis. Sie lösten sich von der bis dato empfundenen unumstösslichen Zuordnung der Deutschschweizer Volksmusik zu Tourismuswerbung und einer tendenziell zutiefst konservativen Lebenseinstellung.
Fast zeitgleich mit diesem unerwarteten Aufbruch entstanden neue Musikfestivals. Zuerst hatte man in Altdorf den Kuchen gerochen («Alpentöne» - siehe auch Artikel zu Alpentöne auf norient.). Sukzessive entstanden weitere Festivals wie die Toggenburger «Naturstimmen», das Obwaldner «Volkskulturfest» und etwas später in Zürich die «Stubete am See». Sie alle sind zu lebendigen Foren einer neuen Schweizer Musikkultur mit populärem Anspruch geworden. Der nicht ganz glückliche Begriff «neue Volksmusik» hat sich zunehmend durchgesetzt und ist mittlerweile sogar als Förderkategorie anerkannt.
Geschichte der Volksmusik
Ein Blick in die Historie soll deutlich machen, worum es eigentlich geht. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts, als weite Teile Europas politisch neu definiert wurden, begriff sich auch der alte helvetische Staatenbund erstmals als Nationalstaat. Damit erfasste die Schweiz eine grosse Sehnsucht nach nationalen Symbolen; heute würde man sagen: nach Alleinstellungsmerkmalen. Wobei das wirklich Eigene im Angesicht der Berge ja nur das Hergebrachte sein konnte. Unter dem starken Einfluss der Romantik wurde im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert das assoziative Arsenal für das heute noch weitgehend gültige Panorama der Schweiz geschaffen.
Im Zuge dieser Suche nach Requisiten der Selbstidentifikation kam es zur forcierten Festlegung auf eine gemeinsame Volksmusiktradition. Gleichzeitig vollzog sich auch eine zunehmende Fremdverklärung der Alpen. Die Schweiz ebnete als Zauberberg und gründerzeitliches Bergsanatorium dem Tourismus den Weg. Mit gezielten Marketingstrategien wurde schon sehr früh ganz bewusst ein neues Image aufgebaut, wobei eine gewisse Selbstverklärung der Bewohner ihr Übriges dazu tat. Neue Produkte wie Kräuterbonbons, Müesli oder Malzgetränke wurden zum unverkennbaren alpinen Geschmacksverstärker, und Johanna Spyris Geschichte von Heidi zementierte nach innen wie nach aussen das Bild der heilen Welt in den Bergen. Die Folklore spielte die Musik dazu. Aber welche Folklore?
Mit dem Niedergang der in der Folge der Französischen Revolution im Chaos versinkenden Helvetik sollten in der sich wieder erholenden föderalen Vielfalt der Schweiz das Nationalgefühl und der gesamtschweizerische Selbstwert nachhaltig gestärkt werden. Zudem musste der eingebrochene Tourismus wieder angekurbelt werden. Es war das Jahr 1805, als man bei Interlaken auf der Burgwiese zu Unspunnen das erste «Fest der schweizerischen Alphirten – zu Ehren des Alphorns» veranstaltete. Den Initiatoren ging es darum, die alten Spiele und Wettkämpfe wie das Steinstossen und das Schwingen wiederzubeleben, also etwas zu reanimieren, was es offensichtlich nicht mehr gab. Die gezielte Einführung des vorher in der Schweiz nur marginal vorkommenden Alphorns zeigte gewisse Früchte, auch wenn es zunächst eher als touristisches Bettelinstrument zum Einsatz kam, was der beabsichtigten folkloristisch-repräsentativen Wirkung eher entgegenlief. Nicht viel anders erging es dem Jodeln. Der erst im 19. Jahrhundert geprägte Begriff dieser universellen Stimmkultur wurde ursprünglich nur mit Tirol in Verbindung gebracht. Heute sind das Jodeln wie auch das Alphorn bestimmende Bestandteile der Schweizer Volkskultur. (siehe dazu auch Podcast mit Dieter Ringli auf norient.)
Gegen den Kommerz
Mitte des 19. Jahrhunderts schliesslich kam auch in der Schweizer Volksmusik das sich weltweit rasant verbreitende Akkordeon ins Spiel. Wie in vielen europäischen Musiktraditionen wurden so auch in der Schweizer Volksmusik die Streichinstrumente zunehmend verdrängt. Allerdings gab das Akkordeon als Schwyzerörgeli der Ländlermusik auch einen unverwechselbaren Klang. Entscheidende Impulse zur Entstehung dieser Musik kamen jedoch weniger aus den bäuerlich geprägten Alpentälern. Sie wurde seit den 1920er Jahren vor allem in den Städten erfunden und zu einer nationalen Musik gemacht, die zunehmend auch auf Schallplatten zu hören war und insbesondere mit der Einführung des Radios grosse Verbreitung fand. Die Volksmusik passte sich vor allem in der Nachkriegszeit mehr und mehr einem medial definierten Publikum an. Das Farbfernsehen schliesslich vervollständigte auf der visuellen Ebene die massentaugliche Gleichförmigkeit. Im Glanz der Eurovision geriet die Schweizer Volksmusik zunehmend in eine Glaubwürdigkeitskrise.
In den 1990er Jahren tauchte wie aus dem Nichts eine ganz anders sozialisierte und gut ausgebildete junge Musikergeneration auf, die sich pragmatisch und unbefangen über diese Verkrustungen hinwegsetzte. Mit der zunehmenden Verfügbarkeit globaler Musik aus den entlegensten Winkeln der Erde schien auch die Zeit reif für einen Blick auf die eigenen Sounds. Es war ja nicht die Ländlermusik an sich, die auf Ablehnung stiess, sondern diese gekünstelte Volkskultur, die sich dem medialen Kommerz gnadenlos angebiedert hatte.
Einen folgenreichen Impuls setzte Mitte der 1990er Jahre Markus Flückiger, ein junger, ungewohnt virtuoser Schwyzerörgeli-Spieler, gemeinsam mit dem nicht weniger brillanten Klarinettisten Dani Häusler. Mit der von ihnen gegründeten Gruppe Pareglish wagten sie den Befreiungsschlag. Man mischte Schweizer Musik mit Klezmer, Rock und elektronischem Material, also mehr oder weniger allem, was gerade greif- und tanzbar war. Das war an und für sich nichts Besonderes, wäre das Ausgangsmaterial dieses Crossover nicht die für diese Zwecke äusserst unhandliche Ländlermusik der Schweiz gewesen. In der Folge gründeten die beiden 1998 das Quartett Hujässler, das mittlerweile zu einer Institution in der Schweizer Musikszene geworden ist. Das Ensemble war fundamental für die Begründung einer neuen Musik aus der Schweiz, die sich eindeutig zum musikalischen Erbe bekannte und die Volksmusik nicht nur als Steinbruch für andere Konzepte missbrauchte. Zudem war und ist ihr musikalisches Selbstverständnis frei von repräsentativen Motiven, Volkstumsideologie und Kommerz. Mit dieser ungewohnten Einstellung sorgten sie für reichlich Verunsicherung in angestammten Revieren. Denn Flückiger und Häusler gehören einer Generation an, die weder die Politik der 68er Folkies noch den Muff des Musikantenstadl in sich trägt. Zudem stellen ihre spielerischen Qualitäten auch heute noch nahezu alles in den Schatten, was zuvor in der Volksmusik zu hören war.
Entscheidende Impulse gingen auch vom klassisch ausgebildeten Cellisten und Komponisten Fabian Müller aus. Er gab 2002 in Altdorf eine Sammlung von über 12 000 alten, von der Musikethnologin Hanny Christen zusammengetragenen, Volksmelodien vornehmlich aus dem 19. Jahrhundert heraus. Damit lag erstmals eine nicht zu verleugnende Möglichkeit vor, einen umfassenden Blick hinter die starre Einheitsfassade der Deutschschweizer Volksmusik zu werfen. Fabian Müller war auch massgeblich an der Gründung des Altdorfer Hauses der Volksmusik beteiligt, dessen ambitioniertes Ziel es ist, die Fortentwicklung der Volksmusik in der Schweiz mit diesem neuen Selbstverständnis zu beleben.
An den stilistischen Rändern
In diesem Umfeld wurde das Ensemble Hanneli-Musig gegründet. Nicht mehr ganz so jung und ungezwungen wie in Zeiten von Pareglish, spielen hier neben Häusler, Flückiger und Müller noch zahlreiche Vertreter durchaus auch unterschiedlicher Ansichten einer neu belebten Volksmusik mit. Markus Flückiger ist mittlerweile stark mit einem weiteren Sammelbecken verbunden, dem Überlandorchester des Gitarristen Max Lässer. Inhaltlich sehr offen, treibt man sich in Jazz, Country und Weltmusik herum, ohne das Terrain der Ländlermusik gänzlich zu verlassen. Überhaupt bewegte und bewegt sich in der neuen Volksmusik sehr viel an den stilistischen Rändern. Viele dieser musikalischen Freigeister hatten zuvor mit Volksmusik überhaupt keine Berührung gehabt. Man kam vom Jazz, von der Klassik oder vom Folk.
Unter ihnen waren der Elektro-Maultrommel- Spieler Anton Bruhin, der Alphornspezialist Balthasar Streiff oder der Appenzeller Hackbrettspieler Töbi Tobler, der bereits 1983 gemeinsam mit dem Bassisten Ficht Tanner unter dem Namen Appenzeller Space Schöttl beim Zürcher Jazzfest aufgetreten war. War das nun noch Free Jazz oder doch eher Free Folk? Es fehlte an Begrifflichkeiten für diese neuen «animalischen Geräusche aus Feld und Stall». 1999 schliesslich beteiligte sich Töbi Tobler an dem seltsam anmutenden Neuen Original Appenzeller Streichmusik Projekt. Mit dabei waren Persönlichkeiten wie Paul Giger, der Volksmusik-Deserteur Noldi Alder und Fabian Müller. Sie versetzten das tradierte Material mit grandiosen Ausflügen in archaisch reduzierte naturtonale Sphären. Dabei zeigten sie sehr viel Vertrauen gegenüber der im Alpenraum ohnehin einzigartigen Appenzeller Musik. Hier kam das gefundene oder erfundene urschweizerisch anmutende klangliche Potenzial voll zum Tragen. Als sei hinter der durch historische Verwerfungen mutierten Musik eine vergessene Tür aufgegangen.
Natürlich und ungeschminkt
Auffällig ist, dass sich trotz so erfolgreicher Experimentierfreude bis heute kein neuvolksmusikalischer Mainstream etabliert hat und auch keine Platzhirsche das Geschehen bestimmen oder medial dazu erkoren wurden. Unter den vielen, die sich hervorgetan haben, sind Hans Kennel, Albin Brun, Corin Curschellas, Florian Walser, Domenic Janett, Marc Unternährer oder der junge Marcel Oetiker zu erwähnen. Sie alle haben, oft aus völlig unterschiedlicher Herkunft und Motivation heraus, ganz eigene Zugänge zum gemeinsamen Thema gefunden.
Deutlich wird diese Vielfalt beispielsweise beim alpin besonders aufgeladenen Jodeln. Zu Aushängeschildern eines neuen Umgangs mit dem tradierten Klangarsenal wurden erfolgreiche Musikerinnen und Musiker wie Nadja Räss, Christian Zehnder, Christine Lauterburg und Erika Stucky. Sie entwickelten ganz eigenständige gesangliche Konzepte, die alle ihren Nährboden in derselben Tradition haben. Und distanzieren sich explizit von den unumstösslichen Setzungen des Eidgenössischen Jodlerverbandes, der immer noch akribisch darüber wacht, wie hierzulande gejodelt werden muss. So würden vermutlich auch die ohne Trachten auftretenden Geschwister Schönbächler aus Einsiedeln mit ihrem schlichten und zutiefst berührenden Gesang keinen einzigen offiziellen Wettbewerb überstehen. Und doch zeigen sie, dass das Jodeln, wenn es so natürlich und ungeschminkt geschieht, ganz tief aus dem Herzen der Schweiz zu kommen scheint und mühelos neue Publikumsschichten erreicht.
Die Zentralpräsidentin des Eidgenössischen Jodlerverbandes hatte in einer Diskussionsrunde zu den kritischen Fragen zur Uniformität der verbandlich reglementierten Volksmusik der Schweiz kaum stichhaltige Argumente zu bieten. Und beim Eidgenössischen Volksmusikfest im September 2011 in Chur, bei dem fast 300 Gruppen in einem von einer Jury nach festgelegten Kriterien bewerteten Wettbewerb ihr Können vorführten, traten immerhin 14 Musikgruppen im Programm «Volksmusik grenzenlos» auf: quasi ausser Konkurrenz. Sauber getrennt vom reglementierten Wertungsspiel wurde hier der anderen Volksmusik immerhin eine Existenz bescheinigt. Den Begriff «neue Volksmusik» zu verwenden, verbietet sich freilich noch. Denn das würde das in Jahrzehnten gepflegte Selbstverständnis der Veranstalter infrage stellen. So weit ist es noch nicht. Und doch, es hat sich erstaunlich viel bewegt beim Klang der Schweiz.
Eine erweiterte Fassung dieses Textes wurde im ersten Norient Buch «Out of the Absurdity of Life» publiziert.
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Published on December 23, 2011
Last updated on May 01, 2024
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