Alan Lomax (1915–2002)

Der Schatz des Bluesjägers

Alan Lomax reiste ein halbes Jahrhundert lang durch die USA, die Karibik und Europa – und sammelte dabei 17’400 Blues- und Folksongs. Jetzt wird sein einzigartiges Musikarchiv im Internet frei zugänglich.

Er nannte es eine Jagd, und sie trieb ihn schon als jungen Mann in die Nacht und hinüber ins schwarze Ghetto von Austin. «Wäre ich erwischt worden», schrieb er später in seinen Memoiren, «man hätte mich vermutlich von der Universität geschmissen.» Aber Alan Lomax, Student der Philosophie, blieb dem Blues auf den Fersen. Es waren die 30er-Jahre, und die schwarze Musik erlebte in den USA eine erste Blütezeit, als prekäre Tonspur der Depressionszeit. Robert Johnson streifte durchs Land und sang seine Lieder über den Teufel und die Höllenhunde, die er am Strassenrand sah. Als Lomax, mittlerweile ein Angestellter der Library of Congress, ihn 1939 suchte, fand er nur noch Johnsons Mutter, die sagte: «Little Robert, he dead.» Doch die Jagd ging weiter. Alan Lomax suchte, wenn nicht nach dem Mann, so doch nach seinem Sound. Und fand, auf einer Baumwollfarm im Mississippi-Delta, einen jungen Musiker, der sich Muddy Waters nannte und eine verstörend gute Slidegitarre spielte. Lomax überredete ihn, seinem portablen Aufnahmegerät vorzuspielen und produzierte so die ersten Platten des Bluessängers, der zehn Jahre später, nun in Chicago, seine Gitarre an den Strom anschliessen und den Blues und die Populärmusik revolutionieren würde. Das war im Sommer 1941, und nach den ersten Sessions mit Muddy Waters war Alan Lomax, dem gerade mal 26-jährigen Texaner, der Platz in der Musikgeschichte nicht mehr zu nehmen.

In der Kirche und im Knast

Nun, Alan Lomax hat auch wegweisende Aufnahmen mit den Folksängern Woody Guthrie und Leadbelly gemacht. Und doch wäre es falsch, seine Verdienste nur an den Platten zu messen, die er mit diesen musikhistorischen Schwergewichten eingespielt hat. Auch nach 1942, als er nicht mehr für die Library of Congress unterwegs war, die US-amerikanische Nationalbibliothek, durchkämmte er rastlos die Südstaaten. Lomax besuchte die Gottesdienste und die härtesten Gefängnisse des schwarzen Amerika, und er stiess noch in den 70er-Jahren in entlegenen Hügeln auf Reste archaischer Trommel- und Flötenmusik, die direkt aus Afrika importiert schien.

Congregants of the Church of God and Saints of Christ, Memphis, Tennessee, 1959 (photo: Alan Lomax).
Prisoners chopping wood, shot by Alan Lomax, 09-16-1959, Parchman, Mississippi (photo: Alan Lomax).

Das ekstatische Schreien der Priester, die Sprechgesänge der aneinandergeketteten Sträflinge oder der wehe Singsang eines einsamen Baumwollpflückers: Diese Aufnahmen erzählen direkt aus der afroamerikanischen Erfahrung, bevor diese auf den Zungen der professionellen Bluessänger und Gospelquartette zum einflussreichsten Musikstil des vergangenen Jahrhunderts wurde. «Im Süden, wo ich aufwuchs, waren die meisten Leute davon überzeugt, dass die Schwarzen glücklich seien», schrieb Alan Lomax in seinen Memoiren («The Land Where the Blues Began», 1993): «Schwarze, die über die monströsen Ironien redeten, denen sie täglich ausgesetzt waren: Sie riskierten ihren Job, wenn nicht ihr Leben.»

Mit seinem mobilen Aufnahmegerät, glaubte Alan Lomax, sei es ihm wenigstens ansatzweise gelungen, in diese «Zone des Schweigens» vorzudringen und den Schweigenden eine Stimme zu geben. In seinem Buch zitierte er einen verarmten schwarzen Pächter, der für seinen Landlord nur ein gefrorenes Lächeln übrighatte, im Mikrofon aber eine Gelegenheit erkannte, sich an den amerikanischen Präsidenten zu wenden: «Also hören Sie zu, Mr. President, ich möchte, dass Sie wissen, dass man uns hier unten im Süden nicht gut behandelt.»

Forrest City Joe B. Pugh (with harmonica) and Sonny Boy Rogers (with guitar), Hughes, Arkansas, 1959 (photo: Alan Lomax).
Wade Ward listening to playback with Alan Lomax at the Ward home, Galax, Virginia, 1959 (photo: Alan Lomax).

Als Alan Lomax im Sommer 2002 starb, hinterliess er eine riesige Sammlung von Aufnahmen. 150 000 Meter Film, 5000 Fotos. Und 17 400 Songs. Eine Auswahl wurde über die Jahre in prallen Schallplattenserien veröffentlicht, die «Southern Journey» oder «Sounds of the South» hiessen und zwischenzeitlich auch auf CD erhältlich waren. Doch seit kurzem ist das Archiv im Internet vollständig und frei zugänglich. Der Verein Cultural Equity, geführt von einer Lomax-Tochter, hat die Aufnahmen digitalisiert und bietet sie als Stream (nicht als Download) an. Zwar fehlen die Songs, die Lomax bis 1942 für die Library of Congress produziert hat, aber das schmälert nicht den Wert der Sammlung. Denn erstens sind die erwähnten Aufnahmen von Muddy Waters oder Woody Guthrie aus anderen Quellen gut greifbar, und zweitens wollte Lomax nicht in erster Linie die besten Künstler überliefern, sondern, wie er selber sagte, den «breiten Strom afroamerikanischer Folklore».

Cultural Equity homepage.

Und wie der sich schliesslich in den Blues verengte: «Yeah», diktierte ihm Memphis Slim ins Mikrofon, «der Blues ist eine Art von Rache». Vielleicht hatte das intuitiv auch die amerikanische Bundespolizei begriffen. Jedenfalls legte das FBI schon 1942 eine Akte über Alan Lomax an, die in vier Jahrzehnten auf 800 Seiten wuchs. Die antikommunistische Paranoia traf also auch den Musikethnologen, der sich durch schludrige Bekleidung verdächtig gemacht hatte, durch sein «erratisches, künstlerisches Temperament», vor allem aber wohl durch seine Neugier auf den Alltag und die Kultur der verarmten, werktätigen Landbevölkerung. Die Befragungen durch das FBI waren einer der Gründe, warum Alan Lomax um 1950 nach London zog (was ihm, wie die BBC erst nach seinem Tod enthüllte, die Bespitzelung durch den britischen Geheimdienst eintrug).

Alan Lomax with vendemia workers at the grape harvest, Moncalvo, Piemonte (Italy), 1954 (photo: Alan Lomax).

Die Rache des Blues

Von der englischen Hauptstadt aus reiste Lomax durch Irland, Schottland, Spanien, Italien und Portugal und dokumentierte auch dort, am liebsten in den Dörfern, die Tänze und die Lieder der lokalen Bevölkerung. In seinem Archiv findet man erschütternd schöne Gesänge – suchen Sie nach «Black Is the Colour of My True Love's Hair» der Irin Robin Roberts! – ebenso wie manch eine Kuriosität: John MacDonald etwa, der Alan Lomax im schottischen Inverness ein paar Dudelsackmelodien vorsang. Wonach der Sammler suchte, waren keine ländertypischen, sondern lokale Stile. So dokumentierte er 1952/53 in Spanien just das folkloristische Patchwork, das Franco zugunsten einer nationalen Volkskultur zerschlagen wollte.

Olive pickers singing, Bormujos (Sevilla), Andalucía (Spain), 1952 (photo: Alan Lomax).

1958 kehrte Alan Lomax in den Süden der USA zurück. Er jagte wieder den Blues. Und stellte dabei fest, dass der Blues auch ihn gejagt hatte. Die schwarze Bevölkerung des Südens wisse schon lange, was es heisse, wurzellos und entfremdet zu leben; mit dem Gefühl, ein Gebrauchsgegestand zu sein und kein Mensch. In der Moderne, schrieb er in seinen Memoiren, lerne es nun auch das weisse Amerika: «Was das ist, der Blues.»

Alan Lomax in Radix Village, Rio Claro-Mayaro (Trinidad and Tobago), 1962 (photo: Alan Lomax).

Biography

Christoph Fellmann (* 1970), lebt in Luzern, arbeitet in einem Teilzeitpensum als Musikredaktor beim Tages Anzeiger in Zürich. Daneben arbeitet er als freier Journalist und Texter. Follow him on Instagram.

Published on April 27, 2012

Last updated on April 30, 2024

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