photo: Thomas Burkhalter.

Bombeneinschläge und Vogelgezwitscher

Donnerstag, 7. September 2006. Punkt sechs Uhr abends donnern drei grosse Jets über Beirut hinweg. «Die Flugzeuge landen wieder!», jubelt die Pianistin Joelle Khoury; «Champagner her!» Wir sitzen beim Interview im christlichen Achrafieh und reden über die Rolle, die Khoury als Musikerin in der Krisenregion noch spielen kann. Khoury komponiert, spielt Jazz und zeitgenössische Musik. Sie ist in Beirut die vielleicht wichtigste Grenzgängerin zwischen der Musikwelt des Konservatoriums und der Subkultur.

Einen grossen Teil ihrer Jugend hat sie im libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990) verbracht. Viele ihrer Musikerkollegen wurden damals geboren. Seit Jahren schon spielen und programmieren sie Musique Concrète sowie frei improvisierte und elektro-akustische Musik. Einige sind überzeugt, dass die Erfahrung des Bürgerkriegs ihr Hören, ihr Musikempfinden und Musikschaffen geprägt hat. Die Erinnerungen waren stets präsent. Lange und ausführlich haben wir nun über ihre akustischen Eindrücke während des jüngsten Kriegs gesprochen – von Bombendetonationen und Propaganda-Liedern.

Der Pilot der libanesischen Middle East Airlines aus Paris sei aus Freude über das Ende der israelischen Luftblockade gleich drei Runden über dem Stadtzentrum geflogen, steht am 8. September in der lokalen Zeitung. In der Nacht auf den 9. September ist erstmals seit langer Zeit wieder Lärm der Container-Kräne im Hafen Beiruts zu hören. Kurze Zeit später erfolgt auf BBC- World die Bestätigung: Die Meerblockade ist aufgehoben worden. Kann man den Krieg als akustisches Phänomen begreifen, frage ich mich.

Petarden und Gewehrsalven

Der erste Lärm, die ersten kriegerischen Signale des jüngsten Krieges waren Petarden und Gewehrsalven von Anhängern des Hizbullah. In Südbeirut feierten sie am 12. Juli die Entführung zweier israelischer Soldaten. Am frühen Morgen des 13. Juli dröhnten die ersten Bomben von den Bergen in die Stadt zurück. Laut und lange. Israel hatte die Pisten des Flughafens getroffen. Der Ton von Fernsehen und Radio wechselte rasant. Zu Beginn der Auseinandersetzungen registrierte das Ohr, wie israelische Politiker und Pressesprecher über die «Chizbalah» schimpften und drohten, Libanon zehn Jahre zurückzubomben. Der Hizbullah versuchte derweil, seine Anhänger mit Propagandamusik auf den Kampf einzustimmen.

«Die Medien haben sofort auf Krieg umgestellt und alte Kriegs- und Widerstandslieder aus dem Archiv geholt», erinnert sich der Freejazzer, Soundtüftler und Schauspieler Raed Yassine. Yassine sammelt Sounds, Reden, Nachrichten- Trailers und Werbe-Jingles aus dem libanesischen Bürgerkrieg. «Eine mühsame Kleinarbeit. Keiner will das Material hergeben», sagt er. Und darum habe er in diesem neuen Krieg rund um die Uhr gleich selber aufgenommen. «Ich habe gearbeitet, wie wohl noch nie in meinem Leben», sagt er. Seine müden Augen versteckt er hinter einer dunklen Sonnenbrille. In seinem jüngsten Kriegsstück, «Day 13», setzt er auf den besagten medialen Irrsinn: Politische Reden, Propaganda- Musik, Werbejingles, politische Analysen, Störgeräusche – alles verbindet sich immer mehr zum entsetzlichen Chaos.

Bomben im Downbeat

Bereits vor den Bombardements erinnerten patriotische Lieder auf dem Hizbullah-Sender Al-Manar an vergangene Zeiten; instrumentiert war die Musik dabei zeitgenössisch: Bass, Beat und Melodien, alles kam aus dem Synthesizer. Und darüber die Stimmen stolzer Sänger: «Ich werde immer Araber sein. Keine Macht der Welt kann das Land meiner Grosseltern vergessen lassen.» Manchmal begleiteten Gewehrsalven kriegerische Verse: «Sie haben mein Heim zerstört, aber meinen Willen nicht. Sie haben meinen Sohn getötet, aber ich bleibe stark. Immer werde ich auf meinen Gegner schiessen. Ob ich sterbe oder am Leben bleibe, ist egal.»

photo: Thomas Burkhalter.

In Videos war zu sehen, wie Hizbullah-Krieger ihre Kanonen luden. Frauen mit Kopftüchern verwarfen ihre Hände und schrien ihren Schmerz in die Welt hinaus. Am Ende der Clips schwenkte die Kamera bisweilen auf den Felsendom in Jerusalem, als letztes Ziel. – An guten Tagen produziere er drei patriotische Videos, erzählte ein Produzent von Al-Manar einem Reporter des «New Yorker». Er synchronisiere den Downbeat im Rhythmus mit Bildern von Bomben.

Viele patriotische Stücke wurden mit den jüngsten Reden Hassan Nasrallahs zu bunten Medleys gemixt. In einem Stück verspricht der Leader der «Partei Gottes», er werde immer an der Seite des libanesischen Volkes stehen, woraufhin eine strahlend helle Männerstimme davon singt, wie sich der Ruf des Muezzins und die Glocken der Kirche umarmten. Dann wieder verspricht Nasrallah, dass er es nie zulassen werde, dass die USA und Israel seine Heimat auf ihre Seite zögen. Libanon solle auf der Seite Syriens und Irans stehen. Die Aussagen von Liedern und Reden sind oft widersprüchlich. Und mitunter mischen sich synthetische Bläser, arabische Gesänge, die Stimme Nasrallahs, Gewehrsalven und Sirenen zu einer unerträglichen Kakophonie.

In der syrischen Hauptstadt Damaskus tönten die Reden Nasrallahs aus alten Radios, kleinen Schwarzweiss-Fernsehern oder aus modernsten Satelliten-Anlagen auf die Strassen hinaus. Das skurrile Echo seiner Stimme in einer plötzlich verstummten Stadt frass sich tief in die Erinnerung. Selbst die neuen und alten Widerstandslieder, die an unzähligen Marktständen aus kleinen Boxen schepperten, wurden für einmal auf Pause geschaltet, wenn Nasrallah zu hören war und die Stadt ihm lauschte.

Geistiger Widerstand als Geschäft

Die Auswahl von Musikern auf den Hizbullah- CD ist mitunter verblüffend. Auch geistiger Widerstand ist eben ein Geschäft: So ist auf einem Album plötzlich auch die libanesische Diva Fairuz zu hören, die nostalgisch vom Beirut der sechziger Jahre singt. Fairuz aber hat gar nichts am Hut mit dem Hizbullah. – Magida Al-Roumi, die auch als Symbolfigur der extremistischen christlichen Partei der Phalangisten gilt, singt auf einer anderen Hizbullah-CD zu samtweichen-synthetischen Sounds: «Beirut, bekämpfe deine Besetzer. Deine Waffen sind gefallen. Lese sie auf, und schlag zu!» Das Lied handelt von der israelischen Besatzung Beiruts 1982. Kriege sind austauschbar für die Propaganda.

Während des libanesischen Bürgerkriegs (1975-1990) hatte jede Miliz eigene Radiosender und eigene Lieder. So priesen die christlichen Milizen ihren Führer und ehemaligen Staatspräsidenten Bachir Gemayel in Gesängen wie diesem: «Nach hundert Tagen Widerstand konnten wir wieder in Frieden und Freiheit schlafen. Achrafieh ist der Anfang, und Achrafieh ist die Legende Bachir Gemayels.» – Just während ich diesen Text schreibe, dringt das Lied in grosser Lautstärke in meine Wohnstrasse. – Gemayel fiel am 14. September 1982 einem Bombenanschlag zum Opfer. Gleich wie in den neuen Hizbullah-Songs wird auch hier die Musik neu aufbereitet mit Synthesizern, synthetischen Bässen und technoiden Beats, damit die alten Männerchöre auch ein jüngeres Publikum ansprechen.

photo: Thomas Burkhalter.

In einem anderen Stück wiederum spielt eine Brassband: Trompeten, Posaunen Saxophone, Klarinetten. So ähnlich feierte und feiert die schiitische Amal-Partei Nabih Berri, der heute Sprecher des libanesischen Parlamentes ist: «Nabih Berri ist unser Augenlicht. O Berri, wir sind deine Männer, jederzeit bereit, uns für dich zu opfern. Wenn dich jemand angreift, so zerstören wir ihn und seine Anhänger.»

Die junge libanesische Subkultur verlegte ihre Aktivitäten während des jüngsten Krieges ins Internet. Die Musiker der kommunistischen Partei hatten zu Bürgerkriegszeiten da und dort an der Kriegsfront für ihre Kämpfer gespielt. Aber für wen, an welcher Front hätten die Musikerinnen und Musiker 2006 spielen sollen? Sie verwandelten sich in Netz-Aktivisten. Ihre Weblogs und Internet-Veranstaltungen gewährten immer wieder direkte Einblicke in den diesjährigen Krieg.

Mazen Kerbaj spielte auf seinem Balkon Trompete zu den Sounds der Bomben. «Starry Nights» heisst das MP3-File, das man nun gratis downloaden kann. Zu hören sind seine luftige Trompete und ein Grollen im Hintergrund. Laute Bombeneinschläge folgen, sie lösen die Alarmanlagen der geparkten Autos in den Strassen aus. Hunde bellen. Und zwischendurch herrscht eine unheimliche Stille. Diese wird auch in «Summerdrone» thematisiert, einem Stück des Gitarristen und Elektronikers Charbel Haber. Die Stille ist ein Warten, ein Warten auf den kommenden Bombenhagel: Die Sounds erweisen sich als endloses, unstrukturiertes und unkenntliches Dröhnen von Gitarren und Kampfflugzeugen.

In den ersten Tagen nach dem durch die Uno vermittelten Waffenstillstand herrschte in Beirut plötzlich eine andere Stille. Am helllichten Tag zwitscherten die Vögel. Und wer in der Nacht durch die Stadt ging, kam sich vor wie in einem gespenstisch dunklen Wald; vor düsteren Häusern standen stumm die libanesischen Soldaten. Es schien, als sei der Stadt der Atem ausgegangen, als hätten die Libanesinnen und Libanesen all ihre Energie verloren. Im zerbombten Südbeiruter Viertel Haret Hreik stocherten Einheimische stumm in den Trümmern ihrer Häuser. Sie stellten einen Koffer, ein paar Schuhe, eine Waschmaschine, alles was sie an Hausrat finden konnten, auf die verstaubte Strasse. Neugierige Passanten fotografierten, kaum einer sprach.

Bis die unheimliche Ruhe dann gebrochen wurde durch die Bagger und Kräne, die einen gigantischen Krach verursachten. Ihre Zangen krallten sich in Beton und Armierungseisen, als wollten sie alles aus dem Elend herausreissen.

Jazzstandards im Berghaus

Joelle Khoury ist zum ersten Mal seit Wochen wieder in ihrer Beiruter Wohnung. «Ich empfinde all die Reden der Politiker und die Verschwörungstheorien der Leute einfach nur als Krach.» Während des Krieges habe sie im Wohnzimmer Jazzstandards gespielt, mit ihrem Mann, dem Bassisten Maurice Khoury. Sie musste abschalten, als Künstlerin könne sie im Krieg ohnehin keinen direkten Einfluss nehmen. «Eine Künstlerin kann im besten Fall Vorbild sein und einen Menschen dazu inspirieren, das Mögliche – und nicht nur das Naheliegende – anzustreben», sagt Khoury. «Libanon ist aber ein Land ohne Vorbilder. Die vermeintlichen Idole, die Clan-Chefs und politischen Führer, sind alles korrupte Lügner. Das ist das Hauptproblem hier.»

Wie viele Musikerinnen und Musiker der Bürgerkriegs-Generation glaubt Khoury heute an nichts und niemanden mehr. Nicht an die Propaganda-Musik, nicht an die libanesischen Popsängerinnen, die während des Kriegs medial wirksam Flüchtlingskinder küssten, nicht an politische Sänger wie Ahmed Qabour, Khaled El Haber oder Marcel Khalife, die im Bürgerkrieg für kommunistische und linke Gruppierungen sangen.

Raed Yassine mag von den engagierten Musikern aus seiner Jugend bloss noch den Sänger Philemon Wehbe, der in den achtziger Jahren in einer 30-minütigen Komposition mit sämtlichen Politikern und politischen Idealen des Landes abgerechnet hatte. «Gebt alle eure Waffen her, geht heim und schlaft», sang er und listete all die Politiker auf, die zum Teil noch heute an der Macht sind. «Sie alle haben dich gefickt, o Libanon. Sie haben dich verkauft, o Libanon.» Wehbe spielt mit den Sounds der populären Dabké-Tanzmusik: mit virtuosen Synthesizer-Sounds, mit der tiefen, oft verzerrt gespielten Flöte, mit der wirbelnden Perkussion. «Engagierte Musik fürs Volk, nicht nur für die Beiruter Intellektuellen- Szene», findet Yassine.

Nach dem Krieg

In der «neuen Nachkriegsphase», von der viele Beiruter mit einem Augenzwinkern reden, wollen viele Musikerinnen und Musiker über die Bücher gehen. «Wir haben Musik veröffentlicht, die wir sonst für uns behalten würden», sagt Mazen Kerbaj, «aber wir haben vielleicht mithelfen können, dass Beirut in der Welt als eine kulturell vielfältige Stadt bekannter geworden ist.» Den Lärm der Bomben will Kerbaj nicht mehr in seiner Musik haben. «Die Wechselwirkung zwischen den Sounds meiner Kindheit und meiner Musik spielt auf einer tieferen Ebene. Ich imitierte die Sounds, die ich einmal gehört habe. Ich verwende nicht das Original.» Yassine spricht davon, dass seine Generation eine neue Verantwortung trage: «Wir müssen Libanon im Ausland würdig präsentieren. Wir müssen zeigen, dass hier grossartige Musik entstehen kann. Entsprechend selbstkritisch sollten wir sein.»

photo: Thomas Burkhalter.

Bedeutende Kunst und Musik werde in Beirut erst in ein paar Monaten wieder entstehen können, glaubt Nadim Mishlawi, ein junger Klangkünstler und Musiktheoretiker. Von vorschnellem künstlerischem Aktivismus hält er wenig. «Ein Künstler ist in erster Linie ein Mensch. Er muss einen Krieg zuerst emotional verarbeiten und reflektieren, ehe er wieder Kunst machen kann.» Mishlawi selber hat im Krieg genau hingehört. Er redet ausführlich und detailliert über die verschiedenen Frequenzen der Kriegswaffen und Kriegsmaschinen und erzählt, wie er versucht habe, das Gehörte geographisch zu orten: «Man sieht sie ja nicht, die Flugzeuge und Kriegsschiffe.» Kann man den Krieg über das Ohr begreifen? «Durchs Hören allein verstehst du gar nichts im Krieg. Du kannst über Gehör versuchen, Einschläge von Bomben zu lokalisieren... Aber so versuchst du bloss, deine Angst zu kontrollieren. Verstehen aber kannst du nichts.»

Alltag

In Beirut sind die Geräusche des Alltags zurückgekehrt. Lokalpolitiker streiten sich wieder. Es wird behauptet, die Regierung habe Hilfsgelder unterschlagen. Man fordert ihre Absetzung. Ab und zu fällt der Strom aus: Ich höre, wie der Lift laut ächzt und stehen bleibt. Hoffentlich ist keiner drin, denke ich und kontrolliere, ob die Batterien des Laptops geladen sind. Das Gerät surrt, ich bin beruhigt.

Biography

Dr. Thomas Burkhalter is an anthropologist/ethnomusicologist, AV-artist, and writer from Bern (Switzerland). He is the founder and director of Norient and the Norient Festival (NF), co-directed AV-performances and documentary films (e.g. «Contradict», Berner Filmpreis 2020 + Al-Jazeera Witness), and is the author and co-editor of several books (e.g., «Local Music Scenes and Globalization: Transnational Platforms in Beirut», Routledge, «The Arab Avant Garde: Musical Innovation in the Middle East», Wesleyan University Press). He teaches regularly at universities, and runs workshops for arts institutions. Since 2022 he produces the Norient Mixtape for Swiss National Radio SRF3. Currently, he is working on his new music project «Melodies In My Head», and on the podcast series «South Asian Sound Stories» with musicians from the UK, Bangladesh, India, Maldives, Sri Lanka, and Pakistan.

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The first CD release by Norient and Outhere Records focuses on a young generation of musicians from Beirut that is tired of war, fed up with politics, sick of religious madness, and angry about Euro-American exoticism.

Published on August 18, 2006

Last updated on September 22, 2020

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