The Mahu Gang Heimatabend in der Komischen Oper Berlin (photo: Valerie Schmidt)

Heimatlieder aus Deutschland

Bei der neuen Auseinandersetzung mit Volkskultur geht immer wieder vergessen: auch die Musik der «Gastarbeiter» gehört zur musikalischen Vielfalt Deutschlands. «Heimatlieder aus Deutschland» ruft das ins Bewusstsein. Der deutsche Migrationsexperte Mark Terkessidis und Labelmacher Jochen Kühling haben Chöre und Bands in Berlin ausfindig gemacht, die diese eingewanderte Folklore lebendig hält. Sie organisierten einen Liederabend, nahmen die Lieder auf und übergaben sie zur Neubearbeitung an DJs. Die CD mit den Studioaufnahmen «Heimatabend Vol.1» erscheint heute auf Run United. Die Remix Compilation «New German Ethnic Music» in einem Monat auf Karaoke Kalk. Kontext und Hintergründe zum Projekt.

Heimatlieder aus Deutschland

Kürzlich hat David Bowie mit einem neuen Stück an seine Berliner Zeit vor 35 Jahren erinnert. Die Veröffentlichung der eher mässigen Single sorgte hierzulande bei einer Riege alternder Musikkritiker für ein Schwelgen in Gedanken an die persönlich relevantesten Songs des Künstlers. Nun würde es sich deutlich mehr lohnen, einen entschieden unnostalgischen und unemotionalen Blick auf Bowies Arbeit in Berlin zu werfen. Denn er fand in Berlin keineswegs nur die angebliche Hauptstadt des Heroins und des deutschen Expressionismus, sondern musikalische Vielfalt. Er hat die Stadt gehört. «Neukoln», «The Secret Life of Arabia» oder «Yassassin (Turkish for: Long Live)» nahmen – wie auch immer vage – Einflüsse aus türkischer und arabischer Folklore auf. Das war durchaus ungewöhnlich, selbst wenn man die Begeisterung der 1970er Jahre für aussereuropäische Musik bedenkt. Denn Bowie hört die innere Vielfalt der Stadt. In Deutschland selbst ist dagegen die Musik der Einwanderung weitgehend ignoriert worden. Vor allem hat sie keinerlei Bearbeitung erfahren. Zwar gab es zu Bowies Zeiten Bands wie Alex Oriental Experience, aber Alex Wiskas «Saz-Rock» huldigte einer recht uneleganten, rockistischen Idee vom Authentischen.

In den letzten Jahren ist das Interesse an Folklore nicht nur enorm angewachsen, sondern wird auch permanent differenzierter. (Siehe Norient-Tag Neue Volksmusik). Es geht schon lange nicht mehr nur um Rebetiko oder Fado. Soul Jazz hat vor einiger Zeit etwa die Musik eines kolumbianischen Ortes namens Palenque herausgebracht, einem der ersten von befreiten schwarzen Sklaven besiedelten Ort, wo sich eine spezifische afrikanische Tradition herausbildete. Heute interessiert sich eine globale Musiköffentlichkeit nicht nur für die «Pipers of Joujouka» und Gnawa, sondern für noch speziellere (schwarze) spirituelle Musiken aus dem Maghreb: Stambeli. Eine Compilation mit Stambeli wurde in der Zeitschrift The Wire ebenso besprochen wie etwa der Sampler «To what strange Place: The Music of the Ottoman-American Diaspora, 1916-1929». Ganze Labels wie Finder Keeper's beruhen auf der Idee, die vergessenen Schätze des weltweiten Tonarchivs zu heben. Die Revitalisierung von Folklore hat zu tun mit der Verfügbarkeit eben dieses Archivs, aber auch mit dem Ende der Idee vom musikalischen Fortschritt.

Victrola

Der Glaube an das nächste neue Ding war eng verknüpft mit der Geschichte der Befreiung des Teenagers und Rock'n'Roll. Im Vorwort zum No-Nonsense Guide to World Music von 2009 schrieb David Toop, er sei in den 1950er Jahren aufgewachsen, also vor der Herrschaft des Teenagers in der Musik. Damals war die Klassifizierung noch nicht so ausgefeilt wie heute, und dieses Fehlen von Schubladen ermöglichte etwa im Radioprogramm der BBC eine enorme Vielfalt: Rumbas, Mambos, Tangos, Fake-Hillbilly, schottische Songs, Hawaii-Gitarren, jüdische Violinen, «Zigeuner»-Serenaden oder Big-Band-Auftritt. Diese Mischung zeigt auch die 2010 erschienene Compilation der Kassettenreihe «Victrola Favorites», auf der Schellack-Aufnahmen aus den 1920er Jahren zu hören sind. Die Musik stammt aus USA, Persien, China, Griechenland, Portugal, Burma – und: man findet eben auch griechische oder indische Musik, die in New York eingespielt wurde. Im Grunde erleben wir heute eine Art Normalisierung des musikalischen Geschehens – die Dominanz des Teenagers und der westlichen Popmusik sind beendet, und damit kann die Aufmerksamkeit sich Musiken widmen, die wie Folk stets als statisch gegolten haben.

Trotz dieser Entwicklung wird der Folk, der durch die Migration nach Deutschland eingewandert ist, weiterhin komplett ignoriert. Im Gegenteil, in den letzten Jahren scheint das Interesse gerade in avancierten Kreisen sogar gesunken zu sein. Hier schätzt man hybride Formen und kann seine Bedürfnisse besser zwischen Moombathon, Quantic und höchst zweifelhaften Typen wie Shantel befriedigen. In der staatlich subventionierten Kulturpolitik ging es zuletzt viel um die Einbeziehung der Menschen mit Migrationshintergrund. Allerdings interessiert man sich hier trotz der vorgeschobenen Partizipationsabsichten zumeist recht wenig dafür, was die betretreffenden Leute eigentlich selbst kulturell produzieren - primär sollen sie bitte die Angebote der bürgerlichen Kultureinrichtungen nutzen. Zudem gilt die «Volksmusik» hier oft als eine Art unzeitgemässes Sozialprojekt. Tatsächlich ist die Folklore der Einwanderer häufig aus sozialen Töpfen gefördert wurde. Es handelte sich um eine Art Rückkehrhilfe zu einem Zeitpunkt, als die Politik noch davon ausging, dass «die Ausländer» irgendwann wieder in ihre Herkunftsländer verschwinden. Jetzt dagegen steht bekanntlich «Integration» auf der Agenda – und da scheint sogar der erbärmliche Jugendheim-Rap von Bushido akzeptabler als «ethnische» Musik.

Stelios Kazandzidis (photo: www.tralala.gr)

Dabei ist es höchste Zeit, die eingewanderte Folklore in Deutschland, nun ja, zu konservieren. Die berühmten «Catcher of Songs» wie Harry Smith, Alan Lomax (siehe Norient-Artikel Der Schatz des Bluesjägers) oder Ewan McColl haben ihre Sammeltätigkeit begonnen, weil sie um den Verlust der Folklore als orale Tradition fürchteten – ganz zurecht im übrigen. In diesem Sinne haben Jochen Kühling und ich uns ein Projekt ausgedacht, das auf die spezifisch deutsche Situation reagiert. Das Singen von Liedern aus den Herkunftsregionen (weniger Nationen) war bei den «Gastarbeitern» in Deutschland ein wichtiges Element von Community-Leben. Der gemeinsame Gesang diente dazu, den durch die Migration erfahrenen Bruch in der Kontinuität von Kultur und Erinnerung zu kitten und sich neu zu verorten. Zunächst wurden vielfach Stücke aus dem lokalen Umfeld gesungen, später dann entwickelte sich ein Markt. In den Herkunftsländern wurden Stücke aufgenommen, welche das Schicksal der Auswanderer thematisierten - die für die griechische Diaspora massgebliche Figur war etwa Stelios Kazandzidis, dessen Stücke heute in Serien wie «The Wire» zu hören sind. Für die türkischen Emigranten in Deutschland wurde bereits in den 1960er Jahren in Köln das Label Türküola gegründet, wo angesagte Musik aus der alten Heimat erschien (etwa türkische Psychedelia von Baris Manco), aber eben auch Platten von in Deutschland lebenden Künstlern wie Yüksel Özkasap oder Metin Türköz. Solche Musik für den türkischen Emigrantenmarkt kann man auf dem von Imran Ayata und Bülent Kullukcu zusammengestellten Sampler Songs of Gastarbeiter Vol. 1 hören.

Nun ist diese Musik konserviert und war auch zuvor zumindest auf Youtube abrufbar. Die Stücke aus dem lokalen oder regionalen Umfeld dagegen gehen verloren, weil die erste Generation der «Gastarbeiter» schlicht ausstirbt. Aus den genannten Gründen haben Jochen Kühling und ich das Projekt „Heimatlieder aus Deutschland“ angeschoben, in dem es darum geht, die Lieder aufzunehmen und zudem in Bewegung zu bringen, dazu später mehr. Zunächst stand die Sammlung im Vordergrund. Teilnahmekriterium war: die jeweilige Musik musste aktuell in Berlin zu finden sein und aus einem Land stammen, mit dem die Bundesrepublik oder die DDR einen Anwerbevertrag hatten. Durchweg Sänger und Sängerinnen aus der ersten Generation zu finden, erwies sich schnell als unmöglicher (und unbezahlbarer) Aufwand. Also hat Jochen Kühling sich auf einen verschlungenen Weg gemacht durch Chorverzeichnisse, Vereinslokale, Restaurants und «ethnische» Kneipen, um Leute zu finden, die aktuell Folklore machen. Sogar die überheizte Botschaft der Republik Kuba wurde zum Schauplatz der Suche – in dem Fall führte eben erst der letzte Rettungsanker zum Erfolg. Aber dieser Erfolg hat sich eingestellt. Aufgenommen wurden Stücke aus Italien, Griechenland, Portugal, Spanien, Kroatien, Serbien, der Türkei, Marokko, Südkorea, Polen, Mozambique, Kuba und Vietnam. 

Der koreanische Chor Berlin in der Komischen Oper im Rahmen des Projektes «Heimatlieder aus Deutschland»

Die jeweiligen Chöre und Bands sind zumeist selbst bereits Konservatoren bzw. Personen, die ein folkloristisches Liedgut revitalisieren. Tatsächlich aus der ersten Generation von «Gastarbeitern» stammen die etwa zwanzig Frauen, die den koreanischen Chor Berlin bilden – die meisten kamen vor vierzig Jahren als Krankenschwestern in die Bundesrepublik. Allerdings gibt es den Chor erst seit 2002. Die Frauen singen häufig Lieder aus der Zeit, als Korea eine japanische Kolonie war. Diese Stücke sind stark angelehnt an europäische Kunstmusik und drücken das damalige Gefühl einer fremdbestimmten Unbehaustheit aus – ein Gefühl, das mit der Stimmungslage der Migrantinnen korrespondierte. Bei den jüngeren Leuten sind die Wege der Musik deutlich labyrinthischer. Die zehn Sänger kroatischer Herkunft interpretieren eine polyphone a capella Musik namens Klapa. Sie stammt aus Dalmatien. Nach Berlin gebracht worden ist sie aber nicht von den Eltern der Sänger, obwohl die Chormitglieder die Musik aus ihrer Jugend kennen. Es war ein aus Kroatien an die katholische Mission in Berlin entsandter Priester, der den Chor gründete. Er bleib nur drei Jahre, aber den Chor gibt es noch heute. Heute hat die Klapa weltweit in der kroatischen Diaspora eine Renaissance erlebt – sie ist eines jener globalen Phänomene geworden, die Arjun Appadurai als «Ethnoscape» bezeichnete.

Eine ähnliche Arbeit an grenzüberschreitenden Ethnolandschaften kennzeichnet auch die serbischen, griechischen, italienischen, spanischen und türkischen Chöre. Ratko und Radisa Teofilovic und Svetlane Spajic haben in Serbien mit Field-Recordings sogenannte Ethno-Musik gesammelt, die sie nun interpretieren. Annunziata Matteucci ist Musikethnologin. Sie hat als Kind ihre toskanische Grossmutter mehrstimmig singen gehört, aber die Musik damals noch nicht zu schätzen gewusst. Das Repertoire ihres Chores ist das Ergebnis regelrechter Forschung. Am längsten dabei ist Nuri Karademirli, der 1969 auf einer Konzertreise nach Deutschland kam, und bleib, weil seine Mutter erkrankte. Er führt heute das Konservatorium für Türkische Musik in Kreuzberg. Der Chor singt volkstümlicher Lieder, angelehnt an die Kunstmusik der Spätphase des Osmanischen Reiches. Die portugiesischen, marokkanischen, kubanischen und mozambiquanischen Musiker und Musikerinnen wiederum spielen in Bands zusammen, was ihre Musik für ungeschulte Ohren zugänglicher macht. Die Stile wie Son, Gnawa oder Fado klingen aus der „Weltmusik“ vertraut und „La Mateodora“, „Seni Balwani Jani“ oder „Milho Verde“ sind ganz einfach Hits.

Annunziata Matteucci und ihr Chor Donni Sò im Projekt Heimatlieder aus Deutschland

Als völlig überraschend erwies sich die Qualität der Musik. Keiner von den Beteiligten hatte zuvor professionell Aufnahmen in einem Studio gemacht. Insofern war die Situation für alle Mitwirkenden ein Erlebnis - vor allem, weil live aufgenommen wurde. Für schlechte mp3-Lautsprecher mutwillig kaputtproduzierte Stücke erscheinen uns unterdessen so normal, dass live eingespielte Musik den Charakter einer emotionalen Offenbarung bekommt. Am ersten Aufnahmetag kamen 15 Männer und Frauen vietnamesischer Herkunft ins Studio. Sie gehörten zu dem von nordvietnamesischen «Kontraktarbeitern» gegründeten Verein Hoithientutam. Der hat seinen Sitz nahe dem Dong-Xuan-Center in Berlin-Lichtenberg, einem Grosshandel für vietnamesische Industrieprodukte von beeindruckender Grösse. Die Musiker bauten ein Instrument auf, das aus einer Saite bestand, die in einem preiswerten Lautsprecher endete und klang wie eine Wah-Wah-Gitarre. Als das Lied begann – gewöhnlich Teil eines aufgeführten Singspiels – sahen der Studioleiter, der slowenische Produzent Zare Pak, Jochen Kühling und ich uns ratlos an.

«Polyphonia» im Stuio für «Heimatlieder aus Deutschland»

Die Musik war derart unvertraut; wir hätten nicht einmal entscheiden können, ob richtig gesungen wurde oder nicht. Wir musstten die Kompetenz abgeben: am Ende der Aufnahme lauschten wir still den 15 Personen, die in vietnamesisch über die Qualität debattierten und entschieden, das Ganze zu wiederholen. Allerdings handelte es sich um genau die Situation, die wir auch kulturpolitisch herstellen wollten. Letztlich ging es für uns darum, etwas zu lernen: über die verschlungenen Pfade der Migration, über Vorstellungen von Heimat, über unbekannte Musiken und die mit ihnen transportierten Erfahrungen. Und auch ganz praktisch etwas über die korrekte Mikrophonabnahme bestimmter Instrumente und die Möglichkeiten der Produktion von unterschiedlichen Musiken. Dabei hat die Arbeit mit 150 Musikern und Musikerinnen auch noch einmal gezeigt, wie wichtig es ist, die abgestandenen Ideen von «Integration» über Bord zu werfen. Was Migration betrifft, geht es in Deutschland nicht um Kulturvermittlung, sondern um Kulturermittlung – das Ende der Ignoranz.

Je tiefer man in den Geschichten der jeweiligen Volksmusiken bohrt, um so deutlicher wird darüber hinaus, wie hybrid die Traditionen sind – all die aufgenommenen Musiken sind das Ergebnis von Wanderung, Austausch, sich überlappender Räume, kulturellem Stoffwechsel. Es ist von nicht unbeträchtlicher Arroganz, die Vermischung vor allem mit avancierter westlicher Popmusik zu assoziieren. Aber im Rahmen des Projektes soll die Folklore noch weiter in Bewegung gebracht werden. Zunächst war es seltsam auffällig, dass in der elektronischen Musik die «volkstümliche Musik» bislang überhaupt keine Interpretation erfahren hat – mal abgesehen von ornamentalen Funktionen in Kommerz-Ambient oder House. Dagegen startete startete der US-Komponist Henry Flynt bereits in den 1970er Jahren einen Zyklus von Stücken mit dem Titel «New American Ethnic Music». Darin verarbeitete er einheimische Musiken wie Blues, Country oder Hillbilly mit elektronischen Mitteln zu etwas Neuem. Dass es in Deutschland hat es noch nie den Versuch gegeben hat, Folklore elektronisch zu bearbeiten, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Volksmusik hierzulande häufig eine debile Samstagabendunterhaltung für Senioren ist. Allerdings ändert sich das Bild, wenn man die Idee der Bevölkerung erweitert. Einwanderer haben eben neue Heimatlieder nach Deutschland gebracht, was bedeutet: auch Fado, Gnawa, Klapa oder vietnamesischer Quan ho sind heute einheimisch.

Zudem hatte sich elektronische Musik in den letzten Jahren vielfach mit Erinnerung befasst, Stichwort: hypnagogic Pop. Warum aber gibt es keine «Ghost Music» der Migration? Eine Musik darüber, wie im Singen ein «imaginäres Heimatland» erfunden, erfahren und tradiert wurde? Elektronische Bearbeitungen eigneten sich also, um den Nachwirkungen der eingewanderten Musik nachzugehen. In diesem Sinne haben wir Künstler gesucht, die mit der Idee und der jeweiligen Musik etwas anfangen konnten und bereits mit menschlichen Stimmen experimentierten, und ihnen jeweils ein Stück vorgeschlagen. Die Aufgabe, Folklore und Gesang zu arbeiten, war enorm schwierig und wir waren jedes Mal wieder überrascht, wie positiv die Antworten und vor allem die Ergebnisse ausfielen.

Guido Möbius hatte zuvor ein Album mit elektronisch bearbeiteten Gospeln gemacht, was ihn als Kandidaten für das Fado-Stück «Milho-Verde» erschienen lies – den Remix bezeichnete der Deutschlandfunk bereits als «wunderzart» (hier reinhören). Kubanischer Son wirkte wie die optimale Grundlage für die Disco-Variationen von Ex-Whirlpool-Mitglied Eric D. Clark. Die assoziative Herangehensweise von Margaret Dygas hat dafür gesorgt, dass sie ein polnisches Lied über die zwangsweise Verheiratung eine Mädchen als klaustrophobisches Gefühl abbildet. Symbiz Sound sind zwei junge DJs koreanischer Herkunft, die mit der Bearbeitung des Koreanischen Chors Berlin quasi den Gesang der eigenen Eltern neu definieren. Mark Ernestus konnte mit dem Remix von mozabiquanischen Marrabanta seine Rhythmusexperimente mit Jeri Jeri fortsetzen.

Herausgekommen sind Zugänge, die so unterschiedlich sind wie die Musiken und die DJs. Manche Melodien sind ganz erhalten, manche völlig verfremdet. Murat Tepeli und Natalie Beridze haben durch sanfte Verstärkungen und Schnitte ganze neue Aspekte betont, Gudrun Gut hat die dalmatinische Klapa auf noch nie gehörte Weise dynamisiert. Thomas Mahmoud hat Gnawa in Dub übersetzt, Khan die griechischen Tanzlieder als Gothic-Panorama dargestellt, Niobe und Matias Aguayo vietnamesischen Quan-ho und spanischen Renaissance-Chorgesang jeweils in ihre ganz eigenen Idiome übertragen. Ulrich Schnauss schliesslich hat den Gesang des italienischen Chores von Donni Sò in eine Hymne auf die horizonterweiterende Kraft der Migration verwandelt.

Als die erste Bearbeitung von Natalie Beridze eintraf, waren Jochen Kühling und ich vor dem ersten Hören aufgeregt wie Kinder. Diese Aufregung ist ein erfreuliches Erlebnis für einen ehemaligen Musikkritiker. Persönlich hab ich bereits vor Jahren einfach keine Lust mehr gehabt, noch länger den Veröffentlichungsdaten der Produkte zu folgen. Tatsächlich hat die Idee vom Underground ja einmal daraus bestanden, an den Metamorphosen eines kreativen Prozesses teilzunehmen, der sich zwischen Sounds, Körperlichkeit, Aussehen, Stil, Haltung und der jeweiligen Ereignishaftigkeit beim Gig oder im Club abspielte. Alben rezensieren machte nur in diesem Verbund einen Sinn. Zudem gibt es heute keine Auseinandersetzungen mehr – nicht über die Methoden der Kritik, nicht über die «richtige» Musik. In seiner Vorlesung Die Vorbereitung des Romans hat Roland Barthes Ende der 1970er Jahre eine ähnliche Situation beschrieben. Eigentlich, meinte er, sei das für den Kritiker der Zeitpunkt, selbst einen Roman zu schreiben. Das könne er aber nicht, und daher umriss er schlicht den Rahmen für die Produktion des Romans, den er gerne schreiben würde.

«Heimatabend»

Darum geht es bei «Heimatlieder in Deutschland» – einen Rahmen für Produktivität zu schaffen. Das Ergebnis haben wir in Anlehnung an Henry Flynt als «New Greman Ethnic Music» bezeichnet. Ob das Projekt das einlösen kann? Das wissen wir nicht. Im Juni gab es den ersten Auftritt mit allen Chören, Bands und Remixen in der Komischen Oper Berlin hören, einem Ort der Hochkultur. Das passt sehr gut und wiederum überhaupt nicht. Bitte keine Schubladen. Ist es nicht schön, offenes Gelände zu betreten?

Dieser Artikel ist zuerst in der Spex erschienen.

Published on October 25, 2013

Last updated on October 08, 2020

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