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Das Gesicht, das die Maske versteckt

Pop ist ein Posen- und Mienenspiel, das seine Akteure 
immer wieder dazu verleitet, sich zu maskieren. 
Am besten, aber auch am gefährlichsten ist dieses Spiel 
allerdings dann, wenn die Maske unsichtbar bleibt. Christoph Fellmann auf der Suche nach der idealen Popmaske über einen «Kult der ungesicherten Identität».

Ein Name wie ein Passwort. Deadmau5. Und tatsächlich öffnet er seinem Träger den Zugang zu einer anderen, virtuellen Existenz. So auch morgen Abend (29. August 2014, Anm. d. Red.). Kurz vor halb zwölf wird sich Joel Thomas Zimmerman, ein 33-jähriger DJ aus Toron­­to, hinter der Hauptbühne des Zürich Openair seine Maske überziehen und kurz darauf vor der Menge erscheinen, eine Maus mit bekreuzigten Augen. Ein Wiedergänger jenes verbrannten Tierchens, das er, so geht die Geschichte, einst in seinem Computer fand.

Schon Michael Jackson besang den Popstar als untote Existenz, in die sich ein Mensch nächtens verwandelt. In «Thriller» mutierte er zum Werwolf, während um ihn die Zombies zuckten. Die Maskerade war beeindruckend, der Videoclip ein enormer Erfolg. «Thriller» war ein höchst unterhaltsames, vierzehnminütiges Horrormovie zu brillanter Musik. Aber auch ein Rätsel. Dem Mädchen, das ihn im Clip ins Kino begleitet, stellt Jackson stellvertretend die Frage, die ihn vis-à-vis der Menschen um ihn herum zeitlebens umtrieb: Liebst du Michael, den Typen, der jetzt neben dir steht? Oder Michael, den Star und Zombie?

Die Frage leuchtet sofort ein. Sie ist aber nicht beantwortbar, denn die zwei Michaels sind voneinander nicht zu trennen. Es dürfe in der Popmusik «in keinem Moment klar sein, ob eine Rolle spricht oder eine reale Person», schreibt Diedrich Diederichsen in seinem Buch «Über Pop-Musik». Nur so gelinge es, die entscheidende Frage zu stellen: «Was ist das für ein Typ da vorne?» Wie richtig der deutsche Poptheoretiker liegt, sah man eben bei Michael Jackson: Die Frage geriet ihm zum Drama. Sein Jacko glich bald einer Figur bei Marcel Marceau, dem französischen Pantomimen, der ihn inspiriert hatte. Nämlich dem «Maskenmacher», dem die Maske unverrückbar auf dem Gesicht haften bleibt.

Die Maske als Logo

Anders, wenn morgen in Rümlang die Maus über der DJ-Burg erscheint. Niemand wird sich fragen, wer eigentlich der Typ hinter Deadmau5 ist. Die Maskerade wird anekdotisch bleiben, aufgesetzt halt. Joel Thomas Zimmerman ist die Karikatur jener frühen Stars der elektronischen Tanzmusik, die im Dunkeln hinter ihren DJ-Pulten standen, als wären sie lieber auf der Hinterbühne geblieben. Dass sich Zimmerman maskiert, ist kein Versuch, anonym zu bleiben, und auch keine Absage an das Star­system. Seine Anonymität schreit nach Aufmerksamkeit. Die Maske ist das Logo, das die Massen vor seiner austauschbaren Funktionsmusik versammelt – und am Stand mit den Fanartikeln.

Ähnlich fadenscheinige Masken findet man überall im Pop. Bei Daft Punk, die sich unter ihren Helmen frei nach Kraftwerk als futuristische Mensch-Maschinen in Szene setzen. Oder beim deutschen Rapper Cro, der unter seinem Pandakopf, den er mit dem Satanskreuz markiert hat, gerade grosse Erfolge feiert. Herzig wirkt auch, wie hier die popkulturellen Zeichen noch von einer Bedeutung raunen, als habe sie Lady Gaga nicht längst und systematisch entleert. Die Masken, die sie in ihren Videoclips zeigt, sind absurd und unlesbar. Bei Gaga wird jede Identität aus den Körpern getanzt, und erreicht wird eine höhe­­re Ebene der Bewusstlosigkeit. Dass es nach Lady Gaga nochmals komplizierter geworden ist, Popmasken zu tragen, wird niemanden daran hindern, es weiterhin auf die banalste Weise zu tun. Keinen Cro, keinen Deadmau5, keinen Trachtenträger des Death Metal und seiner anverwandten Gruselgenres. Und auch nicht Kiss, die berühmteste unter den maskierten Bands, die aufgeschminkt zu Superhelden und Super­dämonen nach wie vor die Hallen füllt. Als sie sich 1983 auf MTV erstmals ohne Maske zeigte, kamen darunter die erwartbaren Plattitüden zum Vorschein, wonach man den Fans nun etwas mehr von sich selbst preisgeben wolle.

Als meine er Kiss, schreibt Diedrich Diederichsen: «An der Ideologie des Authentizismus (...) wie an seinem zutiefst verwandten Gegenteil, dem Rock-Theater, gerät Popmusik an eine bald langweilige, absolute Grenze.» Bemerkenswert an Kiss ist tatsächlich nur eines: Dass die Musiker unter dem Schutz der Masken unbehelligt zum Beispiel über Frauen singen können, die im Bett um Gnade winseln («Shout Mercy»). Gesungen aus Comicmund, wird die Sex- und Gewaltfantasie sofort als irgendwie meta erkennbar, und damit harmlos.

So gesehen, bestand der Skandal des Gangsta Rap also keineswegs in seinen hartgesottenen Berichten aus dem Ghetto. Sondern ausschliesslich darin, dass sich seine Akteure dazu nicht – oder nicht erkennbar – maskierten. Die Rapper trugen die Insignien der Strasse, hafteten aber vor allem mit ihrem (notabene schwarzen) Gesicht für die Suada über Vergewaltigungen, Drogendeals und Schiessereien, die sie vortrugen, als handle es sich um eine Live-Übertragung. Den Gangstas gelang so zweierlei: Sie lösten eine weitreichende Debatte aus über die Gewalt in den amerikanischen Vorstädten. Und sie machten sich als Performer interessant, im Sinne der Frage: Was ist das für ein Typ?

Posen anprobieren

Wie nahe manche dieser Rapper der Halbwelt der Gangs tatsächlich standen, diese Frage wurde immer wieder gern und heiss diskutiert. Im Idealfall blieb sie unbeantwortet, blieb die Maske durchlässig. Denn Pop ist ja gerade der Kult der ungesicherten Identität. Er erlaubt es seinen Konsumenten, aufregend erscheinende Lebensentwürfe in Form von Posen an- und auszuprobieren. Mit den Gangsta-Rappern betritt der Fan das fremde Terrain der Grossstadtghettos wie ein Abenteuerland.

Und mit Bob Dylan taucht er ab ins magische Theater des Folk, wo die Tricks­ter und die Drifter umgehen, die Ripper, die Lover und die Pokerfaces. Dylan ist sie alle, ohne je das Gesicht zu wechseln. Denn er weiss: Ohne Authentizität gibt es keine Täuschung. Indem sie sich nicht maskieren, legen die Gangsta-Rapper und Folksänger authentische Spuren in ihre Performance. Mit ihrem Körper, ihrem ungeschminkten Blick und mit ­ihrer Stimme haften sie für die Lebbarkeit dieser seltsamen oder auch gefährlichen Existenz, die sie besingen. Wie lächerlich wirkten sie, trügen sie eine Maske. Mäuseohren sind nicht lebbar.

Die ideale Popmaske ist also unsichtbar, liegt verborgen hinter einem Gesicht. Zu erkennen ist sie indirekt – an den seltsamen Geräuschen, die ihr entfahren, und am verstörenden Benehmen, das sie bei ihrem Träger auslöst. Und das kann darum kein Zufall sein, weil die Urszene der Popmusik genau davon handelt – von der Weigerung, eine Maske zu tragen. Als Elvis Presley am 28.  Oktober 1956 vor Millionen von amerikanischen Fernsehzuschauern seine elektrisierende Version von «Hound Dog» sang, eines obszönen Bluessongs, machte er die schwarze Musik für die weissen Teenager lebbar.

Chamäleon mit Scheitel

Presley war ein hübscher Junge und ein guter Sohn seiner Mutter. Und das war der Skandal: Er war es auch noch, als er nun vor laufenden Kameras seine Hüften kreisen liess, die Worte lasziv verschleppte, den Kopf verwarf, die Augen verdrehte. War das Theater? Es sah jedenfalls nicht so aus. Früher, in der Mins­trel Show, hatten sich die weissen Entertainer das Gesicht mit verbranntem Kork zum Blackface geschwärzt, wenn sie sich wie die Schwarzen benahmen, und das Publikum lachte. Jetzt wandte sich die eine Hälfte empört vom Bildschirm ab. Die andere wollte sein wie dieser junge Sänger: ausser sich.

Von der Bluesgrimasse bei Gary Moore bis zum coolen Hipsterblick bei Dieter Meier: Imaginäre Masken blieben ein beliebtes Mittel für weisse Musiker, um schwarzes Popterrain zu betreten. Und umgekehrt schrieb der Versuch von Michael Jackson, hinter die Popgeschichte zurückzuspringen und als White­face ein noch viel grösseres Publikum zu erreichen, eine der tragischsten und faszinierendsten Biografien der ­populären Musik. Wie gefährlich es sein kann, unter dem Einsatz des eigenen Gesichts über kulturelle Grenzen zu springen, erfuhr also nicht nur Elvis Presley, an dem sich die Geschichte rächte, indem sie ihn zu einem reichen, fetten, weissen Amerikaner machte.

Spätere Popstars wussten es oft besser und legten sich rechtzeitig eine Maske zu. Tom Waits zum Beispiel, der Hymniker der Gosse, der am Method ­Acting mit Alkohol und Drogen fast zugrunde gegangen wäre, bevor er sich hinter jene Gauklerversion seiner selbst rettete, die heute als Tom Waits bekannt und beliebter ist denn je. Und auch David Bowie erfuhr, wie man im Maskenspiel verloren geht. Als androgynes Wesen namens Ziggy Stardust, hinter dem in vagen Schemen noch ein David Bowie sowie ein David Robert Jones zu erkennen waren, überschritt er die Grenze nicht zur anderen Hautfarbe, sondern zum anderen Geschlecht.

Zur Strafe nennt man ihn bis heute ein Chamäleon. Ob ihn das stört, ist allerdings nicht mehr zu erkennen. Bowie wechselte die Masken in schnellem Takt, bevor er sich schon früh hinter die Larve eines gutbürgerlichen Anzugs und eines Seitenscheitels zurückzog und sich zum unlösbaren Rätsel machte. So, als hätte sich der Maskenmacher entschieden, für immer eine masque neutre zu tragen – und dahinter einfach zu verschwinden.

Dieser Artikel ist zuerst erschienen in der Berner Tageszeitung Der Bund.

Biography

Christoph Fellmann (* 1970), lebt in Luzern, arbeitet in einem Teilzeitpensum als Musikredaktor beim Tages Anzeiger in Zürich. Daneben arbeitet er als freier Journalist und Texter. Follow him on Instagram.

Published on October 06, 2014

Last updated on September 17, 2020

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