photo: Gilles Aubry

Werdet ihr indisch bleiben?

Interview
by Lucia Vasella

In einem Essayfilm von 1969 befragt Pier Paolo Pasolini die Leute auf den Strassen Mumbais zur Modernisierung Indiens. Mit ähnlichen Fragen reist der Schweizer Klangkünstler Gilles Aubry in die Metropole – vier Jahrzehnte später. Die Antworten für seinen movie without pictures findet er in den Filmstudios, Castingräumen und Schauspielschulen von Bollywoods B-Seite Mahada.

[Lucia Vasella]: In «Notes via a soundscape of Bollywood» (Homepage zum Hörfilm hier) beschreibst du das bildgewaltige Bollywood-Treiben. Warum entscheidest du dich ausgerechnet da gegen die Verwendung von Bildern?

[Gilles Aubry]: Die Bildproduktion ist in nicht-westlichen Kontexten problematisch, weil sie während des Kolonialismus eine Form der Domination war. So ist es heute schwierig mit Bildern nicht zu exotisieren. Die Absenz der Bilder ist nicht nur Teil meiner künstlerischen Sprache, sondern auch ein Statement für diese Problematik.

[LV]: Was lässt sich mit Ton allein überhaupt abbilden?

[GA]: Nur mit Tonaufnahmen ist es schwierig, ein eindeutiges Bild zu generieren, ausser bei der Stimme – mittels biometrischer Analyse kann eine Person identifiziert werden. Sonst aber scheitert die Repräsentation mit Ton oft. Die akustische Darstellung eines Raumes gibt zwar einen Eindruck von Grösse und Material, aber nicht von seiner Geometrie. Diese Unklarheit nutze ich künstlerisch, um zu zeigen, wie schwierig die Darstellung von etwas ist. So haben tondokumentarische Arbeiten das Potential, sich selbst kritisch zu reflektieren.

Rani Trikukaran Annuraj spricht ihren Text (photo: Gilles Aubry)

[LV]: In deinen Hörfilm flechtest du die Fabel über einen Maharadscha ein, einen Grossfürsten. Neben all den dokumentarischen Tönen ist dies die einzige inszenierte Aufnahme. Wie kamst du dazu?

[GA]: Diese nepalesische Fabel hatte sich bereits Pier Paolo Pasolini ausgeliehen, für seinen Essayfilm Notes towards a film about India. Ich habe zum einen seine Originalerzählung verwendet, da opfert der Maharadscha sein Körper einer hungerleidenden Tigerfamilie. Zum anderen habe ich diese Fabel dann noch mit der Geschichte eines gescheiterten Filmemachers gekreuzt, den ich getroffen habe. Meine Version spricht die indische Sprecherin Rani Trikukaran Annuraj. Ich hatte sie beobachtet, als sie gerade eine Werbung einsprach. Mir gefiel diese Aufnahmesituation: der Tonfall, der Zwang, die Wirksamkeit der Stimme in einem kommerziellen Kontext. Wir haben dann für mein eigenes Script eine solche Aufnahmesituation reinszeniert.

[LV]: Du hast auch weitere Passagen von Pasolini integriert, warum war dir das wichtig?

[GA]: Pasolinis Film ist toll und problematisch zugleich. Er spricht von Indien immer als eine Einheit und interviewt mit Suggestivfragen. Das ist eine sehr begrenzte Annäherung. Ich war mit ähnlichen Fragen unterwegs, habe aber andere Antworten gefunden. Das zeigt, welchen Einfluss die Haltung des Autors hat. Durch das Einbinden von Pasolinis Kommentar, durch diese historische Distanz, habe ich einen Weg gefunden, dies zu reflektieren. In Notes via a soundscape of Bollywood geht es nicht nur um Indien, sondern eben auch um meinen Blick darauf.


Notes via a Soundscape of Bollywood – Exploring the sonic materialities of film/TV industry in Mumbai
Gilles Aubry, 2014, 32′
Schweiz
Homepage zum Hörfilm hier.

Biography

Lucia Vasella, 1979, lebt in Bern und arbeitet nebenberuflich als freischaffende Journalistin und Radio-Feature-Autorin und ist Mit-Gründerin des sonOhr Hörfestivals. Seit ihrem halbjährigen Aufenthalt 2011 in Sarajevo berichtet sie regelmässig aus dem Balkan, u.a. auf ihrem Blog.

Published on January 15, 2015

Last updated on August 21, 2020

Topics

Colonialism
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