Mittwoch 12.1.2011. Cem Kayas Dokumentation «Arabesk – Gossensound und Massenpop» eröffnet die türkische Arabesk-Nacht in der Turnhalle im PROGR Bern. Danach stellt Serhat Köksal (2/5 BZ) seine Sound & Video-Performance «Arabesque vs Schweizerbesque @ Palaverel Universe» vor. Im Gespräch mit Norient
erklärt Köksal seine Sicht auf Arabesk. Die Veranstaltung findet statt im Rahmen des 2. Norient Musikfilm Festivals (12-15.1.2011). Nicht verpassen!
Arabesk entstand in den 1960er Jahren in den Gecekondular. Diese informellen Viertel wucherten um türkische Grossstädte wie Istanbul, Ankara, Izmir oder Adana, um die aus Anatolien einströmende Landbevölkerung aufzufangen.
Mit ihrem Stilmix aus arabischen Rhythmen, klassischer türkischer Musik und westlichem Pop begehrten die klagenden Arabesk-Lieder nicht nur formal gegen die osmanische Musiktradition auf. Mit Texten voller Heimweh und Fatalismus gaben sie der neuen urbanen Unterschicht auch Stimme, Projektionsfläche und Identitätsangebot und können insofern als widerständig verstanden werden. Doch dieses Potential hat Arabesk heute fast verloren. Schmerz ist zu Kommerz geworden.
Der in Istanbul lebende Multimedia-Künstler Serhat Köksal arbeitet als 2/5 BZ mit Arabesk-Sounds und -Filmen. Im Gespräch mit Norient erklärt er seine Sicht auf die Entwicklung des Arabesk-Phänomens: «Heute haben sich die wirtschaftliche Ungerechtigkeit, der Schmerz und das Leiden im Leben der Menschen sogar noch verschärft. Arabesk ist aber immer weniger Ausdruck dieser schwierigen Lebensbedingungen oder Stimme der städtischen Armen. Vielmehr hat Arabesk sich ein elitäres Publikum geschaffen, für das es mehr und mehr produziert. Das heutige Arabesk ist eher ein Upgraded Class Arabesk.»
Oft heißt es heute, Arabesk sei einst von der türkischen Machtelite zensiert oder verschmäht worden, und sei jetzt durch demokratische Entwicklungen gerettet worden. Diese Darstellung findet Köksal heikel: «Die meisten Arabesk-Stars haben sich mit der neuen ökonomischen Situation nach 1980 gut arrangiert. Sie sind heute nicht mehr weit entfernt von den Interessen und Vorlieben der Machtelite. So lassen sie sich gut in den globalen Markt integrieren. Wenn man diese Denke weiterspinnt, lässt sich ihre Entwicklung auch als Erfolgsstory vermarkten: Sie verbreitet einen gewissen ‹Optimismus› in der städtischen Unterschicht und für kleine Unternehmen.»
Den heute noch aktiven Arabesk-Sänger Hakki Bulut hebt Serhat Köksal als eine große Ausnahme hervor: «Im Rohschnitt des Dokumentarfilms Arabesk – Massenpop und Gossensound habe ich ihn reden hören. Er bezog sich auf einen der wichtigsten Arbeiterproteste gegen den Neo-Liberalismus in den letzten Jahren, die Widerstandsaktionen der Arbeiter der Tekel-Werke: ‹Arabesk ist Tekel-Widerstand›, sagte er. Dieses Statement veranschaulicht eine Art, wie ich mich auf Arabesk beziehe.»
2/5 BZ ist fasziniert vom türkischen Pop-Kino, das parallel zum frühen Arabesk in den 1960 und 70er Jahren ohne Copyright-Beschränkungen und mit Hilfe von Steuervergünstigungen so richtig aufblühte. In wenigen Jahren wurden Hunderte von Remakes und Adaptionen westlicher Filme und aller möglichen Sujets auf einen hungrigen Markt geworfen. 2/5 BZ: «Ich war sehr beeindruckt von den Effekt-Designern und Sound-Technikern. Mit ihren Cut-Up-Techniken schufen sie Soundtracks, die traditionelle türkische Musik und westliche Avantgarde-Musik vermischten. 1993 habe ich für mein fotokopiertes Zine ‹Gözel Mecmuasi› (Gözel Zine) einige der Leute interviewt, die zuständig waren für Synchronisation, Effekte und Visuals. Ihre Namen waren Anfang der 1990er Jahre noch völlig unbekannt.»
Heute erarbeitet 2/5 BZ mit diesen Sounds und Bildern eigene Live-Performances: «Mit der Zeit bin ich immer besser darin geworden, das Film-Material zu reproduzieren. Irgendwann habe ich angefangen, Video und Sound spontan live auf der Bühne zu editieren. Ich arbeite dabei ähnlich wie die Filmemacher an ihren Schnittplätzen im Studio. Nur schneide ich alles live auf der Bühne. Diese Vorstellung gefällt mir. 2000 wurde ‹NO Touristik NO Egzotik› eines meiner Konzepte. Daraus hat sich ‹No Cultural Pipeline No Energy Dialogue› entwickelt, denn mir fiel auf, dass Worte wie ‹Dialog› oder ‹Brücke› klischeehaft verwendet werden, um Städte oder Produkte in globale Märkte einzupassen. Heute arbeite ich zu Neoliberalismus in einem Palaverel- und Parallel-Universum sowie Toolerance Imperialism.»
Programm, Links und weitere Videos
Mittwoch, 12.1.2011, 20.30 Uhr. Turnhalle PROGR, Bern.
Film: Arabesk – Gossensound und Massenpop
Performance: Arabesque vs Schweizerbesque @ Palaverel Universe, von Serhat Köksal
Hier gibt es Online-Tickets und weitere Informationen zur grossen Arabesk-Nacht (von Norient und bee-flat).
[…] Arabesk ist die Popmusik der Türkei schlechthin. Arabesk, die Musik der anatolischen Landflüchtlinge in den Städten der Türkei, wird seit ihrer Entstehung von den Eliten des Landes ignoriert – ja sogar verachtet: vor allem wegen ihrer als kitschig empfundenen Musik und ihren weinerlichen, schwerverherrlichenden Texte. Im Film «Arabesk – Gossensound und Massenpop» von Cem Kaya und Gökhan Bulut werden diese durchaus politisierten Geschmacksfragen ganz genau diskutiert – unter anderem von Serhat Köksal aka 2/5 BZ, der am Mittwoch 12.1 zur Arabesk Sound und Video-Performance in der Turnhalle im PROGR Bern einlädt. […]
[…] opening party was also the first performance of the musician and media artist Serhat Köksal. At gezi protests in june, he broke himself both arms when he escaped from the police. With his […]
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[…] Mehr Informationen zu Arabesk und Serhat Köksal gibt der Artikel von Stefanie Alisch (Stef the Cat!) im norient Magazin […]
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