Klangspaziergang (photo: Angel Sanchez).

Die Schweizer Volksmusik als Experimentierfeld

Essay
by Dieter Ringli

Was Volksmusik ist, kann heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts nicht mehr eindeutig bestimmt werden. Dass Musik durch die Massenmedien zur alltäglichen Selbstverständlichkeit geworden ist, hat die Grenzen des Themenfelds verschwimmen lassen. Schweizer Volksmusik ist somit weniger eine musikalische Kategorie, als eine kollektive Vorstellung, ein Mythos, der so unterschiedliche Phänomene wie das Dreigestirn Alphorn-, Ländlermusik und Jodelgesang umfasst, der aber auch Tessiner Volkslieder, Westschweizer Chöre oder Berner Liedermacher mit einschliesst. Dieser Mythos ist zwar einem ständigen Wandel unterworfen, er wirkt aber auf die musikalische Realität, unabhängig davon, ob er mit den historischen Gegebenheiten übereinstimmt oder nicht.

Auch wenn wir objektiv feststellen können, dass das Alphorn seine heutige Grösse und Gestalt erst seit rund hundert Jahren hat und es nur dank unermüdlichen Wiederansiedlungsversuchen seine heutige Verbreitung erreicht hat, dass das Jodeln um die Wende zum 20. Jahrhundert noch als typische Tiroler Spezialität galt, die ersten Schweizer Jodellieder erst im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstanden sind und dass die Ländlermusik erst seit den 1920er Jahren nationale Bedeutung erlangt hat, so ändert sich dadurch nichts daran, dass diese Arten von Musik als «urschweizerisch» gelten. Der Glaube an diesen Mythos existiert und wirkt unabhängig von seinem Wahrheitsgehalt. Wir können nicht umhin, diese Art von Musik als schweizerisch gelten zu lassen, weil sie im In- und Ausland für schweizerisch gehalten wird.

Diese Schweizer Volksmusik hat aber in den letzten Jahrzehnten stetig an Bedeutung verloren. Zwar stehen Alphorn, Jodel und Ländlermusik noch immer als Symbol für die Schweiz. Aber die Kenntnisnahme des Symbolgehalts vollzieht sich auf einer rein verstandesmässigen Ebene. Wir wissen zwar, dass dies Schweizer Musik ist, aber wir fühlen es nicht mehr. Sie verursacht in der Fremde kaum noch Heimweh, weil sie nichts auslöst – oder sogar Abneigung erweckt, weil sie oftmals für eine Alpen und Edelweiss Klischee-Schweiz steht, von der man sich nicht als Heimat angesprochen fühlt. Für die meisten Schweizerinnen und Schweizer ist Volksmusik bloss noch eine Chiffre für ein ihnen fremd gewordenes Schweizertum. Die Musik selber kennen sie kaum noch.

Am Beispiel der Ländlermusik lässt sich zeigen, woher diese zwiespältige Haltung stammt: Um die Mitte des 20. Jahrhunderts haben die Volksmusikanten und die Landbevölkerung die Idee verinnerlicht, Träger einer Tradition zu sein, die es unverfälscht und rein zu bewahren gilt, weil die Schweiz überschwemmt wurde von einer Flut von ausländischer Populärmusik. Anstatt aber, wie es früher selbstverständlich gewesen war, auf diese neuen Einflüsse zu reagieren, erachteten es die Musikanten und ein Teil des Publikums als ihre Aufgabe, die Ländlermusik als nationales Kulturgut unverändert zu erhalten. Zwar konnte so der musikalische Stil gerettet werden, der Preis dafür war allerdings hoch. Zum Opfer fiel dieser Haltung die einzige wirklich uralte Tradition in diesem Genre, nämlich der stete Wandel und die ständige Anpassung an die sich verändernden Umstände und Bedürfnisse durch die Verarbeitung fremder Einflüsse und Anregungen.

Seit den 1950er Jahren ist nichts Neues mehr dazugekommen in der Ländlermusik. Zwar gab und gibt es noch immer laufend neue Stücke und neue Kapellen, teilweise sogar sehr gute. Aber es kamen in den letzten Jahrzehnten keine neuen Formen, Rhythmen, Instrumente oder Besetzungen mehr auf, die sich dauerhaft hätten etablieren können.

Dieser unüberhörbare Stillstand hat dazu geführt, dass sich die Bevölkerung im Lauf der letzten fünf Jahrzehnte zunehmend von der Ländlermusik abgewendet hat. Die Angst der Trägerschicht der Volksmusik, sich mit neuen Einflüssen auseinander zu setzen, der Rückzug auf die vermeintlich eigene Tradition hat die Volksmusik in der Schweiz somit an den Rand des Verschwindens gebracht. Nicht nur weil damit die Musik auf dem Stand der 1950er Jahre eingefroren wurde, sondern vor allem weil diese fünfzigjährige Nabelschau der Volksmusik die Grundlage genommen hat, gerade durch Austausch und Auseinandersetzung mit Fremdem einen Beitrag zur eigenen Identitätsfindung zu leisten. Denn Austausch und Entwicklung sind nicht gleichzusetzen mit Verfälschung und Verwässerung. Im Gegenteil: Sie sind – und waren schon immer – ein unabdingbarer Bestandteil der Tradition. Die Ländlermusik hat aber nur noch aus sich selber geschöpft und sämtliche Kontaktaufnahme mit anderen Gattungen oder Stilen bewusst vermieden. Daher billigen ihr die meisten Schweizerinnen und Schweizer zwar noch immer zu, nationales Kulturgut zu sein, aber sie haben das Interesse daran verloren. So ist der Kreis der Liebhaber, die sich für diese Musik begeistern können, zunehmend kleiner geworden. Sowohl die Ausübenden, als auch ihr Publikum sehen sich mit einer unübersehbaren Überalterung konfrontiert. Darüber können auch einige aktive Nachwuchskapellen nicht hinwegtäuschen. Wenn die Entwicklung oder besser die Nicht-Entwicklung so weiterliefe, würde die Ländlermusik und damit ein wesentlicher Teil der instrumentalen Volksmusik in absehbarer Zeit ganz verschwinden. Ähnliches gilt auch für den Jodelgesang und das Alphornspiel.

Seit einigen Jahren zeichnet sich nun aber eine Wende ab. Es ist wieder ein steigendes Interesse breiter Schichten an der Volksmusik zu beobachten, nicht nur auf dem Land, sondern auch in den Städten. Gelangweilt von der ewig gleichen Popmusik und angeregt durch die boomende Worldmusic rückt die Suche nach musikalischen Wurzeln aus der Schweiz wieder vermehrt ins Zentrum. Auch gibt es wieder zunehmend Musikantinnen und Musikanten, die sich bemühen, die Volksmusik weiter zu entwickeln, indem sie den Blick wieder über die Grenzen hinaus schweifen lassen. Diese innovativen Musiker sind technisch hervorragend, haben zum Teil eine Ausbildung an einer Musikhochschule absolviert und kennen sich auch in Sparten wie Rock oder Jazz aus. Dabei sind es nicht nur die umliegenden Alpenländer, die als Quelle der Inspiration für Komposition und Interpretation dienen, sondern auch Skandinavien, Osteuropa, internationale Populärmusik oder experimenteller Jazz und Neue Musik. Zu erwähnen sind hier Formationen und Musiker wie Hujässler, Hanneli-Musig, Pflanzplätz, Marcel Oetiker, Max Lässers Überlandorchester oder Doppelbock. Und auch die innovative Jodlerin Nadja Räss muss hier genannt werden.

Marcel Oetiker (photo: Angel Sanchez).

Den Volksmusik-Liebhabern sind solche Beispiele zwar oft zu modern und Medien und Veranstalter lassen sich erst zögerlich darauf ein. Trotzdem mehren sich die Anzeichen, dass die Volksmusik vor einem neuen Aufschwung steht – und zwar nicht vor einem blossen Revival, sondern vor einer substantiellen Weiterentwicklung. Das Alpentöne-Festival in Altdorf (Kanton Uri), das alle zwei Jahre stattfindet und innovativen Volksmusik-Formationen aus dem In- und Ausland eine Plattform bietet, ist nicht nur bei der Lokalbevölkerung beliebt, es wird auch von Schweizer Radio DRS übertragen und so zu einem Medienereignis in der ganzen Deutschschweiz. Ebenfalls in Altdorf hat vor kurzem das Haus der Volksmusik den Betrieb aufgenommen, ein Zentrum, das sich nicht der musealen Bewahrung der Volksmusik widmet, sondern ihrer lebendigen Weiterentwicklung. Und die Musikhochschule Luzern bietet Nachdiplomkurse und seit letztem Herbst als erste Musikhochschule der Schweiz eine Berufsausbildung in der Sparte Volksmusik an. Selbst Pro Helvetia unterstützt, nachdem sie die Volksmusik lange Zeit gemieden hat, mit ihrem Programm «Echos» die Volkskultur wieder substanziell, nicht bloss aus Pflichtgefühl oder politischem Kalkül, sondern mit Begeisterung.

Weit wichtiger als diese äusserlichen Zeichen ist aber die Tatsache, dass erstmals seit Jahrzehnten die Schweizer Volksmusik von weiten Kreisen der Bevölkerung wieder als spannend und anregend empfunden wird und das lässt auf eine fruchtbare Weiterentwicklung in den nächsten Jahren hoffen.

Christian Zehnder (photo: Angel Sanchez).

Biography

Dieter Ringli, geboren 1968 in Küsnacht ZH, erhielt schon früh klassischen Unterricht in Klavier, später auch in Querflöte und sammelte musikalische Erfahrungen als Gitarrist in Blues- und Hardrock-Bands, aber auch als Männerchorleiter. Er studierte schliesslich Musikwissenschaft und Musikethnologie in Zürich, arbeitete dann als Assistent am Musikethnologischen Archiv der Universität Zürich und doktorierte 2003 mit einer Arbeit über die «Schweizer Volksmusik im Zeitalter der technischen Reproduktion». Er ist derzeit Oberassistent an der Universität Zürich und Dozent an der Musikhochschule Luzern und lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern im Zürcher Oberland.

Published on June 04, 2007

Last updated on April 30, 2024

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