Raymond Scott (photo: Colin Powell, Jack Hertz, Peter Davidson, & Thomas Park)

Mutantenswing und Elektronik vom Mars

Short Essay
by Christian Gasser

Mit seinem sechsköpfigen Quintette nahm Raymond Scott den Mutantenjazz für das Maschinenzeitalter auf und belebte unzählige Trickfilme mit irrwitzigen musikalischen Einfällen. Später mutierte er zum Pionier der elektronischen Musik. Der Dokumentarfilm Deconstructing Dad – realisiert von Raymond Scotts Sohn Stan Warnow – bringt uns ein authentisches Genie der populären Musik des 20. Jahrhunderts näher.

Raymond Scott gehört zu den Musikern, dessen Musik den meisten von uns vertraut ist – sein Name aber den allerwenigsten. Kompositionen wie «Powerhouse», «Toy Trumpet» und «Twilight in Turkey» wirbeln zwar durch weit über hundert Warner-Brothers-Trickfilme, und Bugs Bunnys hysterisches Wüten im Walde ist unvorstellbar ohne die flinken Wettrennen und Abstürze quer durch alle Tonleitern, doch der Komponist blieb immer im Schatten der «Loony Tunes»-Stars um Schweinchen Dick. Das mag daran liegen, dass er selber seine Musik nie für Trickfilme schrieb und sich, als der grosse Trickfilm-Komponist Carl Stalling seine atemlosen Melodien in die Soundtracks für die Warner-Brothers-Cartoons der vierziger und fünfziger Jahre einwebte, längst mit anderen Projekten beschäftigte.

Diese überdreht swingenden Kabinettstücke galoppierenden Wahnwitzes nahm Raymond Scott mit seinem Quintette bereits in den späten dreissiger Jahren auf. Sein Quintette war eigentlich ein Sextett, aber Quintette, befand er, klang einfach griffiger – wie auch sein Pseudonym, das er im Telefonbuch von Manhattan gefunden hat, einen besseren Rhythmus hatte als Harry Warnow, wie der am 10. September 1908 geborene Sohn russischer Einwanderer richtig hiess. Raymond Scott mixte Swing mit klassischen Zitaten, Dschungelrhythmen mit Marsharmonien, entführte uns mit seinen Melodien aus der metropolitanen Hektik in türkische Bäder und Geisterhäuser und von da auf einem schlingernden Ozeanriesen bis hoch in die Schweizer Alpen, und immer wieder liess er die Instrumente Alltagsgeräusche wie Schreibmaschinen, Züge, Treppenstürze oder knarrende Türen imitieren.

Zu guter Letzt schmückte er seine musikalischen Feuerwerkskörper mit Titeln wie «War Dance For Wooden Indians», «Dinner Music For a Pack of Hungry Cannibals», «Confusion Among a Fleet of Taxicabs upon Meeting With a Fare» oder aber auch «Boyscout in Switzerland». Damit stiess er sowohl Jazz-Puristen als auch ernsthafte Klassikfreunde vor den Kopf. Die ersten warfen ihm vor, in seiner Musik keinen Raum für Improvisationen zu lassen, die anderen verschmähten ihn als Spassmacher. Humor hatte es in der Musik schon immer schwer. Das Publikum aber liebte seinen nervösen Mutantenswing fürs Maschinenzeitalter, Scotts Radioshows waren Gassenfeger und seine Platten Bestseller. Auch heute ist es unmöglich, sich ein Schmunzeln zu verkneifen, wenn die munter quäkenden Posaunen und Trompeten flott durch stürmische Schlagzeugwirbel tänzeln, unvermittelt in eine vollkommen andere Melodie stolpern und watschelnd, aber ohne an Charme und Eleganz einzubüssen, den Weg zurück ins Grosstadt-Chaos suchen.

Der Karloff und das Clavivox

Raymond Scott war rastlos. Unfähig, das Erreichte zu vermarkten, suchte er immer nach neuen Herausforderungen. In den vierziger Jahren war er mit einer Big Band auf Tour, er komponierte für Hollywood und den Broadway, produzierte Werbejingles und dirigierte das erste gemischtrassige Radio-Orchester der USA. Seine Umtriebigkeit erschwerte auf die Dauer aber die Beziehung zu seinen Musikern – er war ein Perfektionist, der seine hochkomplexen Arrangements nie aufschrieb, sondern seinen Musikern in endlosen Sessions Ton um Ton einbläute; er war ein Tüftler und Bastler, und so war es nur konsequent, dass sich der gelernte Ingenieur immer öfter und immer länger in sein Heimstudio zurückzog – schliesslich sind Maschinen einfacher zu beherrschen als Menschen…

Vom Bandleader mutierte Raymond Scott zum Daniel Düsentrieb der populären Musik. Schon 1948 baute er seinen ersten Synthesizer, den «Karloff», der Geräusche wie Husten, Geschirrklappern und Dschungeltamtams nachahmen konnte. In den folgenden zwanzig Jahren erfand er zahlreiche weitere elektronische Instrumente wie das Clavivox, das das Klangspektrum des traurig heulenden Theremins erweiterte, den ersten Sequencer oder eine Rhythmus-Maschine und das Videola, ein Radiogerät, das nach einer bestimmten Zeit automatisch zum nächsten Sender switchte. Seine extravaganteste Schöpfung war zweifellos das Electronium, ein zwei mal zehn Meter grosses Ungetüm, das ohne menschliches Zutun selber Klänge erzeugte, die der Musiker nur noch live zu arrangieren brauchte. Er habe Lust, soll Raymond Scott seinem damaligen Mitarbeiter und späteren College-Professor Herb Deutsch anvertraut haben, einfach dazusitzen, die Maschine spielen zu lassen und immer, wenn es gut klänge, die Aufnahmetaste zu drücken ...

Ambient fürs Kinderzimmer

Raymond Scott war, so sein Vertrauter Robert Moog, der ab 1956 immer wieder für ihn arbeitete und 1964 den revolutionären Moog-Synthesizer auf den Markt brachte, nicht nur in technologischer Hinsicht, sondern auch musikalisch seiner Zeit voraus. Die Menschen seien noch nicht an elektronische Sounds gewöhnt, schrieb Scott einmal, und deshalb seien sie eher bereit, sich auf ungewöhnliche, auch abstrakte Klänge einzulassen. Das nutzte er voll aus.

Mit seinen Instrumenten und Maschinen produzierte Raymond Scott in erster Linie Werbejingles für Firmen wie General Motors, Vicks, Vim oder Sprite, er vertonte einige Trickfilme des späteren Muppets-Erfinders Jim Henson, er nahm unwiderstehlich hübsche Elektropop-Miniaturen auf, entwarf futuristische Phantasien für künftige Weltraumeroberer, beziehungsweise die Begegnungen mit grünen Marsmenschen, widmete sich aber auch sperriger Musique Concrète. 1963 schuf er in Zusammenarbeit mit dem Gesell-Institut für kindliche Verhaltensforschung seine wohl berühmtesten Aufnahmen: «Soothing Sounds For Baby», Gebrauchsmusik für Kleinkinder zwischen 0 bis 18 Monaten, minimaler, repetitiver und mit leichtfüssigen Kindermelodien verzierter Kinderstubenambient fürs Essen, Trinken, Spielen, Schlafen und Träumen. Mit anderen Worten: Raymond Scott war ein Musiker, der in der populären Musik aufgewachsen war und im Bewusstsein der Errungenschaften der seriösen Avantgarde für einen kommerziellen (Werbe-)Markt arbeitete.

Bereits in seinen frühen elektronischen Spielereien klingt unüberhörbar an, was Philip Glass, Kraftwerk, Brian Eno in den sechziger und siebziger Jahren und Aphex Twin oder Mouse On Mars in den Neunzigern entwickelt haben. Und doch hat Raymond Scott den ihm zustehenden Ruhm als Pionier der elektronischen Musik nie geerntet. Daran ist er nicht ganz unschuldig. Die Aufnahmen, die er für sich selber machte, archivierte er leider sehr nachlässig auf qualitativ minderwertigen Kassetten und Bändern. Er sei so paranoid gewesen, erinnert sich Robert Moog, dass er seine Erfindungen nur gerade seinen besten Freunden vorgeführt habe. «Soothing Sounds for Babies» erschien übrigens 1963 – ein Jahr vor den ersten Elektropop-Aufnahmen mit dem Moog-Synthesizer, dessen Erfinder Robert Moog übrigens, dies nur nebenbei, in den Jahren zuvor in Scotts Haus ein- und ausgegangen war …


Dokumentarfilm

Trailer zum Film Deconstructing Dad – realisiert von Raymond Scotts Sohn Stan Warnow.

Published on September 07, 2011

Last updated on June 27, 2023

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