Nozinja aus einer Fotoserie für Seismographic Sounds von Chris Saunders

Nozinja: Beschleunigte Folklore

Essay
by Florian Sievers

Der südafrikanische Musikproduzent Nozinja hat die traditionelle Musik seines Volks radikal entkernt, elektrifiziert und beschleunigt. Er bewahrt die Traditionen dadurch, dass er sie ständig verändert. Aus dem Norient Buch Seismographic Sounds (hier bestellbar).

Der Auftritt sieht aus, als stellte eine Gruppe aufgeputschter Bauarbeiter ausgesuchte Cartoonfilme der sechziger Jahre nach. Vorn auf der Bühne: zwei Tänzer in orangefarbenen Overalls und mit Clownperücken auf dem Kopf. Bauch und Hinterteil mit Kissen ausgestopft, schlackern sie synchron mit ihren Gliedmassen, als hätten sie keine Knochen. Dahinter thront zwischen Keyboards und Computern ein korpulenter Afrikaner mit breitem Grinsen. Er trägt eine kreischend bunte Mischung aus Sporttrikot und Unterhemd, auf dem Kopf eine undefinierbare Pelzkreation, und hat sich gefärbte Straussenfedern links und rechts an die Oberarme geklebt. So sieht er aus wie der Botschafter einer selbstbewussten Afrobricolage, die Klischees gleichermassen bestätigt wie überdreht.

Nach dem Konzert sind zwar die beiden Tänzer ausser Atem. Richard Mthetwa jedoch, der Federmann hinter den Keyboards, hat nur sein Oberteil durchgeschwitzt und zeigt weiter sein joviales Grinsen. Der Südafrikaner ist zufrieden. Mit dem Auftritt. Mit der Welt. Mit sich. Unter dem Namen Nozinja arbeitet er für eine Handvoll Musikprojekte als Komponist, Produzent und Plattenfirmenboss. Er dreht seine eigenen Videoclips, singt sogar selber und fährt bei Bedarf auch noch die Musikerinnen und Musiker durch die Gegend. Mit seiner Hyperaktivität hat er binnen weniger Jahre ein komplettes Musikgenre aus dem Boden gestampft: Shangaan Electro.

Der Name ist zu verstehen als «elektrifizierte Shangaan-Musik». Denn Nozinja stammt von der Ethnie der Shangaan ab, die in Südafrika offiziell Tsonga heissen. Deren Heimat ist die Provinz Limpopo im Nordosten des Landes, an der Grenze zu Mosambik und Simbabwe. Wie viele Tsongas zog Nozinja irgendwann nach Johannesburg, um Arbeit zu finden. In der Grossstadt zog er zunächst eine Reihe von Handy-Reparaturläden auf, bevor er 2004 aufs Musikproduzieren umsattelte. «Meine Brüder dachten, ich sei verrückt geworden», erinnert er sich. Im Hinterhof seines Backsteinhäuschens im Stadtteil Soweto richtete er ein Heimstudio ein. Hier entstand im Laufe der Jahre ein umfangreicher Katalog aus Kassetten, DVDs und selbstgebrannten CDs mit Aufnahmen von ihm als Xitsonga Dance oder Zinja Hlungwani sowie von seinen Projekten Tshetsha Boys, Tiyiselani Vomaseve oder BBC (Beautiful Black Culture). Mit Erfolg: Der Mittvierziger verkauft heute nach eigenen Angaben Zehntausende Tonträger pro Jahr.

Tshetsha Boys aus einer Fotoserie für Seismographic Sounds von Chris Saunders

Upload auf gut Glück

Irgendwann entdeckte Nozinja dann auch die Webseiten SoundCloud und YouTube als Vertriebskanäle. «Ich habe einfach ein paar Stücke hochgeladen und mir gedacht, ich probiere mal mein Glück», sagt er. Bald darauf meldete sich bei ihm völlig begeistert der New Yorker Journalist Wills Glasspiegel, der die Uploads gehört hatte und Mthetwa mit dem britischen Label Honest Jon’s in Verbindung setzte. Dieses veröffentlichte 2010 schliesslich weltweit die Compilation Shangaan Electro, die den einigermassen blödsinnigen Untertitel New Wave Dance Music from South Africa trug. Denn mit dem Punknachfolger New Wave oder mit elektronischer Dance-Musik hat diese Musik nicht viel zu tun – genau betrachtet, weist sie kaum Anknüpfungspunkte an westliche Pop-Genealogien auf. 

Cover der Compilation Shangaan Electro – New Wave Dance Music From South Africa (Honest Jon’s Records)

«Ich wollte einfach mal etwas Neues ausprobieren», sagt Nozinja zu seinen Produktionen. Schon vor vierzig Jahren hatten Musiker wie General M.D. Shirinda, der einst auch bei Paul Simons Südafrika-Album Graceland (1986) mitgewirkte, traditionelle Tsonga-Musik mit westlichen Instrumenten gekreuzt: Gitarren übernahmen die Melodieführung, Bass und Schlagzeug lieferten das tanzbare Fundament. Nozinja strich den Bass, bastelte die Beats aus stolpernden Tomdrum-Samples zusammen und ersetzte die Gitarren durch Marimbaklänge von einfachen Heimorgeln. Diese simulieren den warmen Klang der xylophonähnlichen Holzinstrumente mehr schlecht als recht. Zudem spielte Nozinja viele der komplexen Melodieläufe per Hand ein. Beides trägt zum wüst zusammengestoppelten Charakter seiner Musik bei. Vor allem aber drehte der Produzent das Tempo der Stücke radikal nach oben. Traditionelle Shangaan-Musik bewegt sich mit 110 Beats pro Minute im gemässigt beschwingten Bereich. Nozinjas Produktionen dagegen sind mit teilweise mehr als 180 Beats pro Minute so halsbrecherisch schnell, dass sich eine Art rasender Stillstand ergibt: Die zahlreichen fein ziselierten Details verschwimmen zu einem euphorisch-aufputschenden Klangstrahl.

Kritik von den Altvorderen

Für den radikal neuen Ansatz hagelte es Kritik von den Altvorderen, die die Tsonga-Kultur von Respektlosigkeiten bedroht sahen. Doch die elektronischen Instrumente, mit denen Nozinja arbeitet, sind nun einmal preiswerter, als wenn er für jede Aufnahme ein mehrköpfiges traditionelles Ensemble anheuern müsste. Aus denselben Gründen hatten Ende der siebziger Jahre schon US-Discoproduzenten begonnen, komplette Orchester durch Synthesizer zu ersetzen. Und ebenfalls deshalb transformieren heute überall in Afrika Musikerinnen und Musiker mit einfachen Computern und simplen Keyboards die Musik ihrer Eltern – von Balani Show in Mali, wo die traditionellen Balafon-Gruppen durch Maschinen ersetzt werden, bis zum Mchiriku in Tansania, wo Bands auf billigen Casio-Keyboards dudeln. Nozinja zufolge entspricht die hohe Schlagzahl seiner Musik auch eher dem heutigen Lebensgefühl. «Geschwindigkeit zählt», sagt er, denn: «Ohne Tempo kein Tanz.» Und ohne Tanz ist es Nozinja zufolge kein Shangaan Electro: Die Musik funktioniere überhaupt nur zusammen mit Tänzerinnen und Tänzern. Die zugehörigen Bewegungen beziehen sich dabei ebenso wie die Musik durchaus auf überlieferte Traditionen. So vermischen sie Elemente der traditionellen Tänze Makwaya (für Männer) und Xibelani (für Frauen) mit dem Johannesburger Pantsula, dessen Ententanzbewegungen in den achtziger Jahren unter den Gangstern der Stadt populär wurden.

In Europa und den USA kommen Nozinjas urban-elektrifizierte Adaptionen von ländlichen Traditionen gut an. 2015 hat er das Album Nozinja Lodge bei der hippen britischen Elektronik-Plattenfirma Warp veröffentlicht. Darauf drosselt er, vermutlich nach Einflüsterungen der Briten, sogar dann und wann das Tempo. Die alten Tsonga-Traditionen bewahrt er weiterhin dadurch, dass er sie ständig verändert.

Dieser Text ist erschienen in der Musikbeilage der Wochenzeitung WoZ Nr. 43/2014 vom 23.10.2014, redaktionell betreut von Thomas Burkhalter und Benedikt Sartorius, und später im zweiten Norient Buch «Seismographic Sounds».

Biography

Florian Sievers ist Autor in Berlin. Zurzeit schreibt er an einem Drehbuch über die Musiksphären Addis Abebas und arbeitet als Mit-Herausgeber an einem Buch des Goethe-Instituts über die Clubkultur in zehn afrikanischen und europäischen Städten.

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Seismographic Sounds
Seismographic Sounds: Visions of a New World
€50.00
The second Norient book «Seismographic Sounds: Visions of a New World» introduces you to a contemporary world of distinct music and music videos. Written by 250 scholars, journalists, bloggers and musicians from 50 countries.

Published on October 23, 2014

Last updated on April 30, 2024

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Dance
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