Interkultureller Dialog klingt schön. Aber kann eine intermusikalische Zusammenarbeit wirklich funktionieren? Und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Ein Plädoyer in zwölf Punkten.
«In this universe, not all the music is of our own making.»
Ihab Hassan
I. Kontext
Einst war der Austausch zwischen verschiedenen Musikkulturen vor allem eine biographische Angelegenheit – ein Musiker/in ging woandershin und traf andere Musiker/innen, machte diese Begegnung zu einem Element seiner/ihrer künstlerischen Existenz. Eine der wesentlichen Nahrungsquellen der westlichen Avantgarden des 20. Jahrhunderts war diese individuelle halb-bewusste Einverleibung und Verdauung «exotischen» Materials, «exotischen» Denkens, «exotischer» Theorie. Nicht wenige behaupten, dies sei überhaupt der einzige Weg für eine sinnvolle Begegnung unterschiedlicher Kulturen. Mag sein, dass sie damit recht haben.
In letzter Zeit jedoch häufen sich Projekte, in denen einerseits kommerzielle, andererseits kulturpolitische oder ästhetische Interessen einen weniger auf individuelle Biographien, sondern mehr auf allgemeinere Ideen zielenden Dialog der musikalischen Kulturen in Gang setzen wollen. Auf allen Gebieten des Musikmachens sprossen Projekte empor, die oft modische Label wie «trans-», «meta-» oder «multi-» trugen. Doch diese «cultural crossover»-Projekte haben in jenen Kreisen des Musikbetriebs, die sich als «echt» oder «ernsthaft» bezeichnen – ob nun in Pop, Rock, Jazz oder Neuer Musik – einen schlechten Ruf. Meist liegt das daran, dass die bisher gehörten Resultate nicht jene ästhetische oder emotionale Tiefendimension zu erreichen scheinen, die erfahrene Zuhörer von «ihrer» Musik gewohnt sind. Selbst bei vielen wohlmeinenden Beobachtern der interkulturellen Musikszene herrscht das Gefühl vor, viele dieser Projekte seien verschenkt, ja verpatzt worden, weil naive Musiker und Produzenten allzu gedankenlos ihr globales Süppchen gekocht haben.
Dies ist aber bestimmt zu einfach. Gewiss: manch ein Multikulti-Projekt dient Musikern, die vor dem Ohr ihrer einheimischen Kollegen nicht bestehen könnten, als künstlerische Nische – sie hoffen, der Mix möge ihre Schwächen übertünchen und neue Qualitäten erzeugen, die ihnen «alleine zuhause» nicht vergönnt gewesen waren.
Aber selbst nicht-rein-kommerzielle Projekte mit guten Musikern und besten Absichten scheitern künstlerisch zuweilen kläglich. Gerade die guten Absichten sind hier oft das Gefährlichste – da gleiten auch grosse Künstler plötzlich ab in Bäder aus Kitsch und Duselei, die sie sonst klug vermieden hätten. Nehmen sie diese dialogische Arbeit weniger ernst als ihre normale? Möglich. Oder ist die Ursache dafür das Fehlen von für beide Seiten verbindlichen ästhetischen Kriterien, an denen sich ihre Inspiration reiben kann? Sind diese grossen Musiker einfach nur orientierungslos? Kann sein. Vielleicht aber, so hört man dann resigniert ab und zu, gilt er ja doch, dieser Satz von Rudyard Kipling, gegen den man einst so emphatisch kämpfte: «Ost ist Ost und West ist West – niemals werden die beiden sich treffen.»
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Als ich 2000 begann, für das Haus der Kulturen der Welt Berlin ein Projekt zu entwickeln, das nord-indische klassische Musik und westliche Neue Musik in einen Dialog bringen sollte, hörte ich vor allem derlei resignierte Warnungen. Im Laufe dieses «contemporaryXchange» (im Folgenden «cXc») genannten Projektes, an dem Musiker wie Shubha Mudgal, Uday Bhawalkar, Aneesh Pradhan, Ashok Ranade und Dhruba Ghosh auf der einen und das Ensemble Modern auf der anderen Seite teilnahmen und dessen erste Resultate schliesslich Anfang November 2003 im Rahmen des Festivals «Rasalîla» in Berlin vorgestellt wurde, war ein wesentlicher Aspekt meiner Arbeit, die Musiker auf beiden Seiten daran zu erinnern, dass angesichts der oben geschilderten Geschichte interkultureller musikalischer Begegnungen dieses Projekt nur sinnvoll sein konnte, wenn sie es zu einem zentralen Aspekt ihrer künstlerischen Arbeit machen würden. Wenn sie sich verbindlich einlassen würden auf die Widerstände, denen sie in diesem Projekt bei den anderen und bei sich selbst begegnen würden.
Denn: Wir leben in einer Zeit, die es Musikern aus unterschiedlichen Stilen und Kulturen immer wieder erlaubt, auf flüchtige Weise miteinander zu «jammen», d.h. sich ohne grossartige Vorbereitung gemeinsam auf die Bühne oder ins Aufnahmestudio zu stellen – und loszuspielen. Sie artikulieren sich dabei in einer Art von musikalischem Esperanto, das jenem rudimentären Englisch ähnelt, in dem Menschen unterschiedlicher Muttersprachen heute alltäglich miteinander kommunizieren – um unbehagliches Schweigen zu vermeiden und eklatante Missverständnisse zu mildern. Die grosse sozialen Meriten dieser spontanen Kommunikation lassen uns jedoch allzuoft vergessen, dass es bei künstlerischer Arbeit nur sehr selten um das Kommunizieren an sich geht. Nicht das Plappern als Ausdruck gegenseitiger Akzeptanz ist für Künstler der wesentliche Antrieb ihres Machens, sondern die Überwindung der Widerstände, die ihre Wahrnehmung der Welt und ihr Handwerk ihnen entgegenstellen: Musik ringt um Fassung, nicht um das Überspielen von Stille. So wie das radebrechende Englisch der Hotelbars und Festivals noch keinem Romancier genügt hat, weder als alleiniges Ausdrucksmittel noch als formales Strukturvorbild, so kann unverbindliches interkulturelles Drauflosjammen keine stichhaltige Musik gebären, weder im Moment noch später. Wenn ich im Folgenden also meine Erfahrungen mit cXc deute, dann geht es nicht um das musikalische Gespräch als lobenswerte Aktivität, sondern um die Tiefe und Originalität der Musik, die es hervorbringen kann.
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In seinem magistralen Essay «The Myth of Pluralism» befindet der indisch-spanische Philosoph Raimon Panikkar lapidar: «Keine rein theoretische Lösung könnte einem pluralistischen Problem jemals angemessen sein…Ein Problem, für das wir eine theoretische Lösung kennen, ist schlicht kein pluralistisches Problem.»
In diesem Sinne sind auch alle Anweisungen, die mein kleines Vademecum für interkulturelle Musikprojekte ausmachen, nur Hinweisschilder auf Stolpersteine. Es sind grundlegende Voraussetzungen für eine künstlerisch-menschlich-ästhetisch befriedigende musikalische Begegnung zwischen Musikern verschiedener Musikkulturen.
Sie basieren nicht nur auf meinem Projekt «contemporaryXchange» (cXc): mindestens zwei andere sehr erfolgreiche Versuche, solche Dialoge in Gang zu setzte, sind mir genauer bekannt. Zum einen das «Atlas Ensemble», ein Ensemble aus 30 hochkarätigen Musikern, die aus Europa und aus allen möglichen Musikkulturen entlang der Seidenstrasse stammen und, geleitet von Joël Bons, ein gemeinsames Orchester bilden, für das Komponisten (ebenfalls aus diesen Kulturen) neue Werke komponieren. Zum anderen: «Crossings», eine im März 2004 kulminierende Begegnung zwischen dem aus Taipei stammenden traditionellen Ensemble «China Found Music Workshop» und dem «Klangforum Wien», die von Christian Utz initiiert wurde.
Dennoch sind die im folgenden formulierten Thesen im Wesentlichen ganz gewiss der von mir sowohl biographisch wie in Projekten durchlebten Begegnung zwischen indischer und westlicher Kunstmusik geschuldet – und dies auch in einem für mich durchaus unerwarteten Sinn. Denn der Begriff der «Meisterschaft», der in meinen Thesen eine gewichtige Rolle spielt, könnte möglicherweise doch stärker kulturell geprägt sein, als ich vermutet hätte. In einem Gespräch mit Dieter Mack, der in einem kürzlich erschienenen Buch über Indonesien u.a. auch unsere Thematik im dortigen Kontext detailliert behandelt, wies dieser mich auf die Unterschiede im Verhältnis zum Begriff der Meisterschaft in den verschiedenen klassischen Musiksystemen Indonesiens hin: Während im hinduistischen Bali eine Indien (und dem Westen) vergleichbare Wertschätzung musikalischer Perfektion zu beobachten ist, zählt offenbar im moslemischen Java die Freude am gemeinsamen Musikmachen mehr als die genaue Darbietung eines Musikstückes. Dies gilt gewiss für musikalische Dilettanten (also: Musikliebhaber), deren Mitwirkung in diesen Fällen prägend ist bzw. war. Für die professionellen Musiker scheint mir aber auch in den diesen beiden Kunstmusikkulturen zweifelhaft, ob das soziale Gefüge wirklich auf lange Sicht diesen Vorrang vor dem musikalischen aufrechterhalten kann.
Der Grund, warum ich populäre Musiken nicht in meine Überlegungen einbeziehe, ist schlicht, dass diese sich nie – anders als die klassischen Musiken – eine Theorie gegeben haben, die zur Folge gehabt hätte, dass sie sich nur bestimmten Einflüssen hätte öffnen können. Populäre Musik war immer ein Potpourri, ihre Neugier war stets nur von der Reichweite ihrer Ohren bestimmt, ist heute also unbegrenzt. Ihr Aufnahmemodus war jedoch nie der des gleichberechtigten Dialogs, sondern eher der einer Lustbefriedigung am Anderen, Besseren, Cooleren, Groteskeren. Man schnappt etwas auf und verbrät es, um es mit Lust zu verspeisen. Diese elementare Neugier muss man weder institutionalisieren noch kategorisieren: ihre Anarchie ist sympathisch und lebendig.
Eine andere Kategorie, die ich eingangs schon erwähnte, kommt in diesem Text ebenfalls nicht vor: die individuell-biographische – man begegnet dem Fremden und ändert sein Leben und seine Musik. Oder: man wird in zwei Kulturen hineingeboren, beide wachsen in einem auf und in das eigene Musikmachen hinein. Über diese Art von Begegnung habe ich anderswo ausführlicher nachgedacht. Dort schrieb ich auch:
«Alle monokulturellen Künstler sind auf ähnliche Weise monokulturell, alle polykulturellen Künstler sind auf ihre eigene Weise polykulturell.»
All jene Komponisten aus aller Welt, die die Musik ihrer Kindheit und Jugend hinter sich liessen, um eine andere Kunstmusik, sei es indische, balinesische, chinesische oder «westliche Neue Musik» zu studieren, und die dann oft in einem mühsamen Prozess nach Hause in ihre ganz persönliche Zukunftsmusik wanderten – sie alle destillierten auf diesem Weg ihr «privates Esperanto», wie der Kunsthistoriker Hamza Walker es nennt – im Grunde verdiente jeder von ihnen eigentlich eine eigene Analyse.
In diesem Text jedoch geht es nur um die dritte Form der gegenseitigen intermusikalischen Befruchtung: das geplante, organisierte Verhandeln von Möglichkeiten einer fruchtbaren Weiterentwicklung beider Traditionen über ihren derzeitigen Stand hinaus. Das ist natürlich eine elitäre Angelegenheit. Nur die wenigsten Musiker und Denker einer Musizierpraxis hinterfragen diese so gründlich, dass die Antworten, die eine andere Praxis ihnen bieten kann, für das eigene Schaffen überhaupt sinnvoll sein könnten. Doch – und das ist meine feste Überzeugung – nur diese konzentrierte Beschäftigung ist eines ernsthaften Künstlers (und einer Musikinstitution, die etwas auf sich hält) würdig. Nichts anderes führt zu guter Musik.
II. Regeln
Hier also meine Forderungen an alle Musikmanager, Kuratoren, Komponisten und Musiker, die in ein Projekt einsteigen, das auf explizite Weise all das nachvollziehen will, was bis dahin stets nur in der «Blackbox Herz» eines durch seine individuellen biographischen Besonderheiten herausgeforderten Musikers stattfand: die Erforschung der Chancen für zwei verschiedene Arten musikalischer Welterfahrung, gemeinsam eine unser Leben deutende Musik zu finden.
Die 12 Punkte sind unter vier Überschriften zusammengefasst: Infrastruktur, Zeit, Ideen, Meistern.
Infrastruktur
1. Interkulturelles Übersetzen auf jeder Ebene
Wie tritt man an Musiker heran? Sachlich in Europa, mit einem Ausdruck echter Bewunderung in Indien, anderswo wieder anders. Wie wird alles organisiert? Man muss z.B. mit verschiedenen Vorstellungen davon rechnen, was eine gemeinsame Probe bedeutet etc. (in Indien z.B. gibt es «Proben» nur bei Amateuren und Anfängern: mit diesem Begriff impliziert man für manche indischen Musiker eine Herabwürdigung ihrer Arbeit! Man muss ihnen also zuvor die Funktion des Probens in der westlichen Musik erläutern.), mit verschiedenen Zeitstrukturen und Tagesabläufen, mit verschiedenen Effizienzbedürfnissen (westliche Musiker werden z.B. oft nervös, wenn sie längere Zeit (in «ihrer» Probe) nicht spielen dürfen, sondern nur zuhören müssen.) etc.
Zum Beispiel war eine der schwierigsten Hürden in cXc, die indischen Musiker davon zu überzeugen, dass es von ihnen erwartet wurde, die Improvisationen der Musiker des Ensemble Modern zu bewerten, zu «korrigieren», ihre Vorstellungen zu äussern. Sie fanden es sehr ungehörig, so erfahrene Kollegen zu kritisieren: denn in Indien sind alle grossen Musiker Solisten, jeder hat seine Art, die ihm ein anderer Musiker grundsätzlich nicht streitig macht. Die westlichen Musiker aber warteten dringend auf eine Rückmeldung. Nur der Hinweis darauf, dass ihr Gegenüber ein freundliches, taktvolles Schweigen als viel verunsichernder empfinden würde als einen kritischen oder konstruktiven Kommentar, konnte die Inder umstimmen. Plötzlich ging ihnen der Mund von nützlicher Kritik geradezu über.
Solche unerwarteten Hindernisse warten an jeder Ecke: das kann Offensichtliches sein wie z.B. Essen, Zeiteinteilung, musikalische Phrasenbildung, Improvisieren contra Komponieren. Aber wie im obigen Beispiel gezeigt, muss man auch Latentes erspüren: sonst kann selbst bei bestem Willen beider Seiten die musikalische Arbeit durch z.B. subtile Hierarchiesignale o.ä. behindert werden. Das muss nicht heissen, das man in einem solchen Projekt vor allen kulturellen Idiosynkrasien buckeln soll. Manchmal reicht es, sie andeutungsweise anzusprechen, oder ihnen (noch besser) durch die Struktur des Treffens (siehe unten) den Wind aus den Segeln zu nehmen. In all dem ist ein kultureller und musikalischer Übersetzer von Anfang an mehr als nur hilfreich.
2. Klare Struktur des Dialoges
Der Dialog sollte nicht mit zuviel gegenseitiger Unkenntnis belastet werden. Allzu viel Fremdheit erzeugt Stress, und dieser erzeugt später allzu grosse Vorsicht beim gemeinsamen Musizieren. Theoretisches sollte besprochen werden können, ebenso wie die Instrumente im Detail vorgeführt und «begriffen» werden sollten: alles in klar dafür vorgesehenen Zeitfenstern. Man sollte Raum für Interaktionen der ganzen Gruppe wie für Einzelgespräche lassen und definieren. Aber nicht jede Minute darf verplant sein: Manche Erleuchtung kommt zwei Musikern erst auf dem gemeinsamen Weg zum Supermarkt.
3. Präsentation von Ergebnissen
Es muss von Anfang an für alle klar sein, dass alle Resultate dieses Dialoges vorläufig sein werden: Wieviel Zeit die Musiker aus verschiedenen Kulturen auch miteinander verbringen werden, sie können nicht mit einem Projekt hoffen, ihre eigene ästhetische Intensität oder ihr in Jahren geschärftes Bewusstsein von den Tiefenstrukturen ihrer jeweiligen musikalischen Heimat auch nur annähernd zu erreichen.
Das Ergebnis ihrer Arbeit sollte auf Konzerten (und auf CDs) präsentiert werden – das erhöht die Konzentration innerhalb und die Aufmerksamkeit ausserhalb des Dialoges. Aber es muss allen bewusst sein, dass es darum allein nicht gehen kann. Die «Ergebnisse» solcher Dialoge äussern sich in viel ungreifbareren Spuren: den kleinen und grossen Veränderungen, Öffnungen, neuen Räumen, die die Teilnehmer sich persönlich in «ihrer» Musik erschlossen haben. Uday Bhawalkar sagte mir, dass er nun ein ganz neues Verständnis von der Struktur und Bedeutung des «alaap», eines zentralen Strukturteils seiner Tradition, gewonnen habe. Er sei sich sicher, dass er den «alaap» nun in den Grenzen seiner Tradition ganz anders verstehen, entwickeln und singen werde. Auf derlei Ergebnisse in der Tiefenstruktur der Musik kann man wirklich hoffen, über sie kann man sich freuen. Sie allein sind nachhaltig und lohnen den ganzen Aufwand. Alles andere ist nur Placebo.
Zeit
4. Zeit für theoretischen Diskurs
Eine der wesentlichen Schwächen der «ersten Welle» musikalischer Dialoge seit den 1960ern war, dass in kaum einem Projekt theoretische Fragen in ausreichender Tiefe angesprochen wurden. Die Musiker damals glaubten offenbar, wie viele ihrer heutigen Kollegen, dass Musiktheorie so etwas sei wie veganische Ernährungswissenschaft: man wird entweder davon nicht satt oder ihre Rezepte schmecken nicht. Reden über Musik sei wie ein gemaltes Diner.
Für Musiker in einem relativ kohärenten musikalischen Umfeld ist diese Haltung auch sinnvoll: denn hier haben die meisten theoretischen Aspekte der Musik viel Zeit zur Diffusion in die Praxis gehabt, wenn nicht die Praxis ohnehin die Theorie geformt hat. Als Musiker nimmt man dann quasi die in der Musik «geborgene» Theorie mit dem Musizieren in sich auf: hier gilt noch ungebrochen das Bonmot von der Theorie als dem Unterbewussten der Praxis. Doch in dem speziellen, nicht-kohärenten Umfeld eines interkulturellen Dialoges kann just diese «verborgene» Theorie zum Problem, ja zum Riff werden, an dem das gemeinsame Boot unwiederbringlich Leck schlagen kann.
Beim cXc lud zum Beispiel einer der indischen Musiker einen westlichen zum improvisatorischen Dialog mit ihm ein. Es dauerte mehrere Versuche und viel Kopfschütteln auf beiden Seiten, bis die Quelle des Missverständnisses zutage trat: mit dem Begriff «musikalischer Dialog» verstand der indische Musiker ganz präzise eine im indischen «jugalbandi» geübte gemeinsame Kompositionstechnik, bei der das gerade Gespielte vom anderen wiederholt und leicht variiert wird. Durch die Akkumulation dieser kleinen Varianten bewegt sich die Musik langsam fort. Der westliche Musiker verstand unter «Dialog» nur ganz allgemein den im Westen seit Charles Ives vertrauten Begriff des musikalischen «Gespräches», das aus Unterbrechungen, Widerspruch, Störung und Kontrapunkt besteht, keinesfalls jedoch aus imitatorischen Variationen.
Erst als diese Differenzen der Theorie abgeglichen waren, konnte man sich mittels einiger Versuche auf ein Dialog-Konzept einigen, das beide musikalisch befriedigte. Um Schwierigkeiten dieser Art im Vorhinein so weit wie möglich zu klären, führte ich mit jeder Gruppe ein Theorieworkshop durch, in dem ich Grundbegriffe und ästhetische wie formale Kategorien und Prämissen der jeweils anderen Musik vorstellte und sie mit den ihnen jeweils «vertrauten» kontrastierte.
5. Zeit für das Kennenlernen der anderen Musizierpraxis
Was macht eine Musikerin der anderen Kultur eigentlich genau beim Musizieren? Was denkt, fühlt, plant sie, wie organisiert sie die praktischen Gegebenheiten um sich herum, wie nimmt sie den Kontakt zu den anderen Musikern auf etc.? Welche Signale gehen im Laufe eines Konzertes zwischen den Beteiligten hin und her?
All dies kann man am besten durch genaue Beobachtung verstehen. Musiker jeder Kultur sind besonders in solchen Dingen sehr aufmerksam – aber man muss ihnen die Zeit fürs Beobachten auch lassen. Am besten wäre, wenn jede Gruppe der anderen zunächst bei der Ausübung ihrer eigenen Tradition zuschaut, bei Proben, beim Üben und bei Konzerten.
6. Zeit zum Experiment, Zeit zum Reifen
Jede beteiligte Musikerin braucht Zeit, um für sich zu entdecken, was in der anderen Musik für den eigenen Weg am interessantesten ist. Man muss lernen zu lieben, was man spielt – und je fremder die Musik ist, desto mehr Zeit braucht man dafür. Sonst bleibt diese Übung genau das – eine Übung. Der Zeitrahmen, von dem ich hier spreche, ist länger als man glaubt: ein bis zwei Jahre, mit einigen Begegnungen und gemeinsamer Arbeit und langen Zwischenräumen, in denen sich die Erfahrungen der Workshops setzen können.
7. Keine ästhetischen Ideologien
Ideologien jeder Art behindern den Dialog. Wer schon glaubt zu wissen, was gute Musik ist, und andere darin belehren möchte, ist in einem solchen Projekt sehr störend. Leider gibt es das sehr oft, nicht nur im musikalisch oft hoch-ideologisierten Westen. Auch bei den Exponenten anderer Musiktraditionen ist oft eine latente post-koloniale Arroganz gegenüber fremden Musiken zu spüren: auch wenn diese als Ausdruck der Notwehr gegenüber dem finanziell übermächtigen Westen verständlich sein sollte – in einem solchen Projekt wirkt sie zersetzend.
Musiker, die frei mit ihrer eigenen Tradition verfahren können, trifft man genauso selten wie Menschen, die in ihrem Leben wissen, warum sie brauchen, was sie brauchen. Mein Postulat: nur jene Musiker, die das musikalische System, das sie kennen, auch mit dem «fremden Ohr» von aussen hören können, sollten über es hinausgehen.
8. Keine Legitimationsversuche
Der Versuch, sein Tun ästhetisch in Gedankengebäuden zu legitimieren, ist Gift. Gerade bei avantgardistischen Arbeitsweisen ist diese Versuchung ja besonders gross, da man sich in der Regel einem verständnislosen bis ablehnenden Publikum gegenübersieht. Traditionelle Musiken vertrauen hier mehr auf den Faktor Zeit, der alles mögliche rechtfertigen kann. In einem Projekt wie diesem, das per definition eine nicht-traditionelle Musik entstehen lassen will, muss man beide Hoffnungen auf Legitimation begraben: es gibt keine. Man muss sein eigenes Wollen und seine Bereitschaft, künstlerische Energie in diesen Prozess zu investieren, als ausreichenden Grund für seine Existenz akzeptieren lernen.
9. Keine Hoffnungen, Exotismen, politischen Pläne
Auf ähnliche Weise wird jede nicht-musikalische Agenda das Projekt ruinieren. Es geht nicht darum, mit Musik die Welt zu verbessern oder einem Unbehagen in unserer Kultur durch Frischzellen aus einer exotisch anderen beizukommen oder gar eine universelle, glückliche Weltmusik zu schaffen. Unzufriedenheit mit dem Gewohnten kann ein verständlicher Antrieb sein, sich in ein solches Projekt hineinzubegeben, ist aber keine gute Voraussetzung für sein Gelingen: nur wer von den guten Seiten seiner Tradition zutiefst überzeugt ist, kann sie auch anderen nahe bringen. Wie ein Rezensent der cXc-Konzerte schrieb, war die zwingendste Metapher für dieses Projekt nicht die (unerfüllte) Sehnsucht, sondern die (unverhoffte) Gabe.
Meistern
Eine der wesentlichsten Einsichten, die mir während des Workshops kam, war, dass intermusikalischer Dialog keine Sache für Liebhaber oder Randbereiche der jeweiligen Kulturen sein kann, sondern sinnvoll nur von Meistern ihrer Kunst erwartet werden kann – von diesen heute allerdings fast schon erwartet werden muss. Ein Meister, so wie ich es verstehe, ist ein durch Erfahrung und Können vorurteilslos gewordener Virtuose. Es geht hier also nicht um den Weihrauch, sondern um das zweite sokratische Prinzip: Ein Meister hat schon soviel mit solcher Intensität gemacht, gesehen, gehört: er weiss endlich, dass er noch nichts weiss.
Für ein intermusikalisches Projekt sind vor allem die folgenden Eigenschaften, die eine Meisterin ausmachen, unschätzbar.
10. Einsicht in die Kontingenz des eigenen Tuns
Der Musikstil, den ich beherrsche, hat nichts mit überlegenem Wissen oder tieferer Einsicht zu tun. Er ist ein Resultat geographischer und historischer Zufälle. Mozart hätte auch Ziryab sein können, Xenakis, Zappa oder Tyagarajan. Alles was ich in der Musik wirklich erfahren habe, ist nicht eine Errungenschaft «meiner» Musik – es gehört letztlich zur Musik als solcher. Ein anderer Musiker, zu anderen Zeiten und in einem anderen Umfeld, hat möglicherweise dasselbe gesucht wie ich. Formen, Klänge, Traditionen sind wie Hautfarben: ich kann sie nicht abstreifen. Man kann mich daran erkennen, ja, aber letztlich sind sie ohne tiefere Bedeutung.
11. Verständnis für die Formen und Bedürfnisse des eigenen Tuns
Alle Formen und Techniken, Ideen und Konzepte, Praktiken und Schulen in einer Tradition haben ihre Gründe in einem fortwährenden Entwicklungsprozess, einer Suche nach Gleichgewicht zwischen Kräften ausserhalb der Musik und Kraftlinien innerhalb der Musik. Formen sind wichtiger als Traditionslinien: Delphine wie Haie haben dieselbe Körperform und ähnliche Flossen – weil sie in der selben Umwelt ähnliche Ziele verfolgen. Darüber könnten sie einen Dialog beginnen.
Ein Beispiel für diese Haltung ist ein Text, den der indische Sarangi-Meister Dhruba Ghosh über sein im cXc entstandenes Werk «The Master’s Tanpura» schrieb (Die Tanpura ist das unscheinbarste Instrument der indischen Musiktradition: sie erzeugt den unveränderlichen Klangteppich, auf dem sich die Improvisationen der Solisten ausbreiten.):
«Die tanpura wird hier als pure Präsenz gesehen, eine Art Resonanzboden, mittels dessen die Musiker im Klang selbst Antworten auf ihre musikalischen Fragen erspüren können. Sie verkörpert die allgemeine Kultur, die den Klangraum schafft, in dem das individuelle Bewusstsein des kreativen Ich atmen kann – und aus dem es die Motive für all jene Gefühle nimmt, die sein weiteres Ich so reich machen: Ein Ich, das Freiheit von allen Bedingungen sucht, die eigenen inklusive.»
12. Der Empfindung vertrauen
Wenn man Musik erfindet, gleich ob im Moment im Dialog oder allein im Kämmerlein, man muss seiner Empfindung für das Richtige vertrauen dürfen – und die Evidenz des Gemachten hinterfragen. Gerade in dialogischer Musik «spielt» sich oft vieles im Annähernden ab, «die Finger komponieren», sagt man dann – und so klingt es auch: Musik für Finger, die andere Finger bewundern sollen. Zur Meisterschaft gehört ein gesundes Misstrauen gegenüber dem Konsens der Virtuosen. Man hört nur auf das innere Ohr, nicht auf elegante, aber ungefähre Gedanken.
Wer eine Begegnung dieser Art koordiniert oder leitet, braucht vor allem an dieser Stelle Fingerspitzengefühl. Meister erscheinen oft störrisch, weil sie nicht nach Kompromissen arbeiten, sondern ihrem Gefühl vertrauen. Das kann den mühevoll ausgearbeiteten Zeitplan des Workshops und den von allen erhofften Konsens gefährden und Nerven kosten. Aber: im Grunde finden doch solche Workshops und Begegnungen nur dieser störrischen Momente wegen statt! Der wirkliche Dialog beginnt da, wo sich die geballten Erfahrungen der meisterhaften Musiker auf beiden Seiten aneinander so intensiv reiben, dass Funken sprühen. Wenn also ein Musiker entnervt sagt: «Warum machen wir das hier eigentlich? Das bringt uns doch nichts!» – in diesem Moment bewegt sich das Projekt auf jenen Moment der Erkenntnis zu, für den es recht eigentlich überhaupt nur existiert. Kann sein, dass es an diesen Fragen scheitert – das ist dann die Schuld derer, die es falsch ersonnen haben. Wenn es aber glückt, dann erwartet einen möglicherweise tatsächlich eine tiefere Erkenntnis darüber, wie Musik uns erfreut: Eine Stunde der wahren Empfindung, jenseits der Regeln und Ideologien. Und vielleicht eine Antwort auf jene Frage, die der Komponist und Musikologe François Bernard Mâche rückblickend als jenes Rätsel bezeichnet, das ihn immer wieder zum intermusikalischen Dialog trieb – und das zu erforschen die Aufgabe der Musiker des 21. Jahrhunderts sein dürfte:
«Wie konnte ich von einer Musik tief berührt sein, über deren Empfindungswelt und Denken ich praktisch nichts wusste?»