Barbara Thalheim, deutsche Sängerin und Liedermacherin, in Berlin 1977 (photo: Manfred Uhlenhut)

Der Staat singt mit – das Lied in der DDR

Die DDR stellte eine riesige Infrastruktur, um die Jugend nach sozialistischem Ideal zum Singen zu bewegen. Aber zwischen dem, was die Funktionäre planten, und dem, was die Jugend wollte, lagen Welten. Und hatten auch kritischen Stimmen ihren Platz? Teil II der DDR-Triologie 1965-1989.

Treffen der Singeklubs am «Denkmal des Kleinen Trompeter», 1967. BUNDESARCHIV, 183-F1002-0027-001 CC-BY-SA

Von all unsern Kameraden,
war keiner so lieb und gut,
wie unser kleiner Trompeter,
ein lustiges Rotgardistenblut

So beginnt das «Lied vom kleinen Trompeter». Es handelt von dem sagenumwobenen Kommunisten Fritz Weineck, der 1925 von einem Polizisten erschossen wurde. Rauf und runter wird das Pionierlied in der DDR gesungen, jede Schülerin und jeder Schüler muss es auswendig lernen und es fehlt bei keiner Staatszeremonie. Doch das ist es nicht, was die Jugend in den 1950er Jahren singen und hören will – sie schielt nach Amerika zu Presley & Co und später nach England zu den Beatles. Aber Musik aus dem Land des Klassenfeindes hatte es schwer in der DDR und wurde als «imperialistische Unkultur» abgetan.

Von «Hootenanny» zur Singebewegung

1966 trifft sich eine Gruppe junger Musikerinnen und Musiker in Ostberlin zu regelmässigen Liederabenden. Sie singen internationale Folk- und Protestsongs, traditionelle Volkslieder und Chansons – ganz ungezwungen zu einfacher Gitarrenbegleitung. Das Modell heisst «Hootenanny» und kommt – ausgerechnet – aus den USA. Die internationale Folk-Welle schwappt in die DDR über und trifft bei der Jugend auf grossen Zuspruch. Doch die SED, Sozialistische Einheitspartei Deutschland, misstraut der Eigendynamik der aufkeimenden Jugendkultur. Erst wenige Monate zuvor, im Dezember 1965, hatte sie im 11. Plenum beschlossen, härter gegen aufkeimende Jugendkulturen vorzugehen. Für die sozialistische Ausrichtung der «Hootenanny»-Klubs sorgen zunächst systemnahe «Berater». Wenig später vereinnahmt die FDJ (Freie Deutsche Jugend) die «Hootenanny»-Idee, verpasst ihr ideologische Funktion und nennt sie «Singebewegung». 

Plattencover des Berliner Singeklubs «Oktoberklub»

Mit Propagandakampagnen macht die FDJ die Bewegung einer breiten Masse schmackhaft und investiert in eine umfangreiche Infrastruktur: Mitte der Siebziger gibt es in der DDR 4000 Singeklubs, jährliche Werkstattwochen und Talentwettbewerbe, eine eigene Hitparade im Jugendsender DT64, Liederbücher und Konzertreihen und als internationales Schaufenster das «Festival des politischen Liedes».

Die Inhalte werden vorgegeben

Die FDJ regt zwar jeden an, selbst zur Gitarre zu greifen und Lieder zu schreiben, aber die Inhalte gibt die Jugendorganisation vor: Alltagsbezogen sollten sie sein, leicht verständlich und voller Zukunftsvisionen für die DDR. Paradigmatisch erfüllt das Hartmut König in seinem Lied «Sag mir, wo du stehst». Zu eingängiger Melodie und rhythmischer Gitarrenbegleitung fordert er ideologische Gesinnung:

Sag mir, wo du stehst
und welchen Weg du gehst.

Zurück oder vorwärts, du musst dich entschliessen.
Wir bringen die Zeit nach vorn' Stück um Stück.

Zwischentöne und Subjektivität

Mit diesen Parolen verliert der verordnete Mainstream schnell seinen Reiz und viele junge Musikerinnen und Musiker finden ihn schlicht und einfach langweilig. Die Liedermacherin Barbara Thalheim will kritisch sein und ihre Wünsche aussprechen: «Ich suche mich – immer noch und immer wieder – und deshalb mache ich Lieder. Als ein ‹Ich› unter vielen ‹Ichs› in der Gesellschaft hoffe ich auf den Wiedererkennungseffekt, auf das Verallgemeinerbare für andere», sagt sie 1989. Hartmut Königs Forderung «Sag mir, wo du stehst» setzt sie in ihrem «Höhlenlied» Zwischentöne entgegen:

Manchmal möchte ich heut noch eine Höhle haben.
Wo man träumen kann und nicht an Grenzen stösst.
Eine Handvoll Leute, die sich selber haben.
Und nur auf sich selber hörn, auch wenn man nicht viel weiss.

Auch musikalisch begnügt sie sich nicht mit dem Liedermacher-Klischee Gesang und Gitarre, sondern komponiert für Streichquartett und Rockband. Trotz ihrer teilweise offenen Kritik durfte sie im Ausland auftreten – auch in der Schweiz – was sie in der DDR zu einer Privilegierten machte.

Gegenstimmen nicht geduldet

Das Lied als Sprachrohr für Kritik am DDR-Staat hat im Singeklub allerdings keinen Platz. Mit Bevormundung, zensierten Texten und abgesagten Vorstellungen kämpfen viele kritische Liedermacher. Oft erhalten sie auch einfach keine Auftrittslizenzen: Bevor sie überhaupt konzertieren dürfen, müssen sie nämlich einer Kommission aus dem Kulturministerium vorspielen.

Wie repressiv der DDR-Staat mit Andersdenkenden umgeht, zeigt sich bei Wolf Biermann. Er singt vor allem über seine Enttäuschung über die real existierende DDR – so hatte er sich die Umsetzung der sozialistischen Idee nicht vorgestellt. Die SED quittiert ihm das mit Auftritts- und Publikationsverbot und erkennt ihm 1976 die Staatsbürgerschaft ab. Für das geistige Klima der DDR ist seine Ausbürgerung «ein Datum wie eine Geschichtswende: Vor Biermann und nach Biermann» - so der DDR-Schriftsteller Günter Kunert.

Folgenreich ist die Ausbürgerung auch für jene, die eine Solidaritätserklärung unterschreiben. Einige dieser Künstlerinnen und Künstler haben damit kaum noch Auftrittsmöglichkeiten oder werden verhaftet und ausgewiesen. Andere finden Nischen ausserhalb der staatlichen Strukturen, z.B. in Kirchen. Oder sie verstecken ihre Kritik «zwischen den Zeilen»: in Metaphern, Ironie und subtilen Anspielungen. Daraus entsteht eine Ästhetik, die das kritische Lied der DDR prägt.

Parodie und Rückzug

Da in der DDR alle Schallplattenproduktionen strengen Kontrollen unterlagen, hatte die Live-Aufführung eine besondere Bedeutung. Der Musiker Hans-Eckardt Wenzel beschreibt das rückblickend: «Wir haben für die Leute Produktionsmittel an Wahrheit hergestellt.» Eine der zahlreichen ,Gegenkultur‘ war das Liedtheater – eine ,interdisziplinäre‘ Sparte, die sich Ende der Siebziger Jahre herausbildete. In den revueartigen Programmen verbanden Gruppen wie Karls Enkel Musik mit szenischen Elementen. Karls Enkel parodierten Symbole und Autoritäten der DDR, während sie gleichzeitig auf Goethe, Hegel, Mühsam und Brecht verwiesen. So versuchten sie sich vom «Ghetto der Singebewegung» zu lösen - wie es Karls Enkel-Mitglied Hans Eckardt Wenzel formulierte.

Die Besetzung des Liedtheaters Hamer=Rehvü: Karls Enkel, die Folkband Wacholder und das Chanson-Duo Dieter Beckert und Karl-Heinz Schulz. 1982 wurde sie in Dresden uraufgeführt und hatte seit dem in der DDR Kultstatus.

Eher leise sind die Anspielungen in den Liedern von Gerhard Schöne. In Interviews nach dem Mauerfall betont er immer wieder nach den Regeln der DDR gespielt zu haben, um sich Gehör zu verschaffen. Sein Podium findet der Pfarrerssohn von Anfang an in den Kirchen – eine Anbindung an den Singeklub lehnt er ab: «Da hätte man dann schon wieder von der FDJ-Leitung irgendwelche Vorgaben gekriegt». Später tritt er vor grossem Publikum auf, ab 1983 auch in Rundfunk und Fernsehen. Sein Lied «Mit dem Gesicht zum Volke» verbreitet 1989 Hoffnung auf eine demokratische Erneuerung der DDR. Zeitgleich singen die Funktionäre in den oberen Etagen das «Lied vom kleinen Trompeter». Das Lied konnte in der DDR also beides sein: staatstragend und staatsgefährdend.

Dieser Artikel ist entstanden für SRF 2 Online.

Biography

Theresa Beyer gehört seit 2011 als Editorin, Kuratorin und Mitherausgeberin des Buches «Seismographic Sounds – Visions of a New World» zum Kernteam von Norient und beschäftigt sich mit Themen wie Queeren Musikkulturen, experimenteller Musik in Städten wie Belgrad oder Neu Delhi, und reflektiert in Vorträgen über die Chancen des multilokalen Kuratierens. Neben ihrer Norient-Identität ist sie Musikredaktorin bei Radio SRF 2 Kultur.

Published on June 04, 2013

Last updated on August 06, 2020

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