Reitschule.

Freie Kultur braucht Freie Räume

Alle vier oder fünf Jahre versuchen Rechtsaussen-Politiker, den Ort, den ich das kulturelle Zentrum der Schweiz nenne, zu zerstören: Das Kulturzentrum Reitschule. In der Schweiz werden viele Gesetze mit einer Volksabstimmung beschlossen. Eine tolle Sache. Aber auch eine Möglichkeit für anti-kulturelle und anti-intellektuelle Kräfte, dem Land sinnlose Gesetze auf zu drängen. Zum Beispiel ein Minarett-Verbot in einem Land, wo es kaum Moscheen gibt.

Eine Partei hat sich auf das Schaffen dieser populistischen und oft xenophobischen «Hypes» spezialisiert: die SVP (Schweizerische Volkspartei). Jetzt will diese Partei einmal mehr die Bevölkerung der Schweizer Hauptstadt Bern dazu zwingen, über das Schicksal der wichtigsten Kulturinstitution der Stadt abzustimmen. Der Ort, welcher der globalen Kulturszene so viel Schönes bietet, soll an den Meistbietenden verkauft werden.

Vor 23 Jahren wurde die Reitschule wieder besetzt. Schon in den frühen 1980er-Jahre war die ehemalige Pferde-Reitschule neben dem Berner Hauptbahnhof von der Jugend in Beschlag genommen worden. Nach kurzer Zeit wurde der Ort von der Stadtregierung geräumt und von – bis an die Zähne bewaffneten – Polizisten wie Fort Knox bewacht. 1987 war das Jahr der grossen Kulturkämpfe in der Schweizer Hauptstadt. Eigentlich war es nicht bloss eine lokale Angelegenheit. Überall in Europa gab es Bewegungen, die neue Kulturorte und billige Wohnräume forderten, in einer Zeit als Gentrifizierung der Innenstädte und profitorientierte Wohnpolitik dominierte: Hafenstrasse Hamburg, Berlin-Kreuzberg, Kraak-Capital Amsterdam sind nur ein paar Beispiele. Plötzlich nahmen sich Hunderte von Jugendlichen das zurück, was sie unbedingt brauchten: einen Hort der Freiheit. Die Reitschule wurde besetzt – für immer. Die legendäre deutsche Punkband Die Goldenen Zitronen sollte in einem nahen Studentenclub spielen. Sie wechselten spontan die Bühne und spielten in der Reithalle, der grossen Halle der Reitschule. Die lokalen Musikgrössen, Züri West, Stephan Eicher und Polo Hofer, folgten. Der Ort wurde autonom und ist es bis heute geblieben!

Etwa ein Jahr später wagte ich einen ersten Schritt in diesen Ort. Ich war ein junger Teenager auf der Suche nach Spannung und ich wurde fündig. Natürlich war dieser Ort perfekt geschaffen für einen pubertierenden Jungen: Billiges Bier, gesunde und weniger gesunde Kräuter zum Rauchen, laute Musik und die Möglichkeit, die ganze Nacht auszuflippen, während meine Eltern glaubten, ich übernachte im Elternhaus eines Freundes, Sohn eines angesehenen Universitätsprofessor. Der Professorensohn flippte natürlich genauso aus wie ich. Bald begannen wir selber hinter der Bar zu arbeiten – und wurden mit Freibier und Gratiskultur entlöhnt. Es war wunderbar.

1990 erschien der Film Step Accross the Border über den zauberhaften Gitarristen und Violinisten Fred Frith. Ich und meine musikliebhabenden Freunde waren sehr beeindruckt und hatten gefunden, was wir gesucht hatten. Kurz darauf spielten alle diese Stars der globalen Impro-Szene, die im Film porträtiert wurden, im Dachstock, dem ehemaligen Heulager der Reitschule: Iva Bittová, Tim Hodgkinson, Tom Cora mit zahlreichen seiner Projekte, und natürlich Fred Frith selbst. Sandro, einer der Dachstock-Veranstalter, arbeitete damals für recrec, ein alternatives Label und ein Musikvertrieb. Er hatte die Kontakte und brachte sie in die Kleinstadt Bern.

Globale Freiheit der Kultur wird an diesem Ort gefeiert: im Theater, im Kino, auf den grossen und kleinen Musikbühnen, überall. Gleichzeitig ist der Ort auch ein Raum für lokale Experimente. Ich erinnere mich, wie wir – eine Gruppe von Tech- und Kunst-Freaks – Anfang der 1990er-Jahre jährlich eine multimediale Performance produzierten: Media Suck. Wir experimentierten mit digitaler Ästhetik und Computertechnologie. Es war so avantgardistisch, dass die meisten Gäste nach ein paar Minuten abhauten, aber diejenigen, die blieben, hatten den Trip ihres Lebens. Das war zehn Jahre, bevor Neue Medien und Digitale Kunst Festivals auf der ganzen Welt entstanden! Natürlich stürzten unsere Computer dauernd ab. Das Bier blieb analog. Zum Glück.

Natürlich bedeutete die Freiheit nicht nur Freude und Sonnenschein. Einige Leute übertrieben es mit dem Bedürfnis nach persönlicher Freiheit und schlugen andere zusammen. Der verrückte Folk-Sänger, Banjo-Virtuose und Geräusch-Wissenschaftler Eugene Chadbourne nannte den Ort mal «Righthell» (Rechtehölle). Auch ich hatte meinen Teil, als ich zusammen geschlagen wurde, nachdem ich – ziemlich betrunken – ein paar Punks beleidigt hatte. Aber ich kam zurück und schloss mich der Konzertveranstaltungsgruppe an. Nach dem Blut und den Tränen kam das Glück. Ich lernte an diesem Ort eine meiner ersten Freundinnen kennen – und habe übrigens erst kürzlich mit einer wunderbaren Frau, in die ich mich ebenfalls an diesem herrlichen Ort verliebt habe, eine Familie gegründet. Und ich habe die globale Musikszene kennengelernt. Ich muss einfach mal ein paar Bands und Musiker aufzählen, die mich beeindruckt, aber auch unheimlich stolz gemacht haben, Teil der Reitschule zu sein: God, The Boredoms, Zeni Geva, Oxbow, DJ Krush, Cop Shoot Cop, Missing Foundation, Melt Banana, U.S. Maple, Marc Ribot, The Ruins, Acid Mothers Temple and the Melting Paraiso U.F.O., 2nd Gen, Kid 606, The Ex, Zu, Charles Gayle, Les Gitans du Rajasthan, Illusion of Safety, Crash Worship, DJ Andy Smith, El Vez und viele andere.

Obschon ich nicht mehr direkt involviert bin, komme ich immer wieder in diesen Ort zurück. Auch für Norient ist dieser Ort sehr wichtig. Die Reitschule ist ein Ort, wo Musik, die neue Grenzen auslotet und überschreitet, ihren Platz hat, bevor sie Mainstream wird. Asian Dub Foundation, Transglobal Underground, Loop Guru waren Gruppen, die in der Reitschule spielten, bevor so genannter «Asian Underground» zum Trend wurde. Osteuropäische Gruppen spielten in der Reitschule, schon kurz nachdem der Eiserne Vorhang gelüftet wurde. Nur logisch, dass die wichtigste lokale Clubnacht mit Balkan-Musik im Dachstock der Reitschule stattfindet: Wild Wild East. Norient organisierte ein erstes Musik- und Filmfestival in diesem Ort: 2003 zeigten Thomas Burkhalter und ich unseren Film Buy More Incense über britisch-asiatische Musiker im Dachstock. TJ Rehmi spielt auf der Leinwand Sitar-Gitarre, während der Abspann läuft. Als wir die Leinwand entfernten, stand der echte TJ Rehmi auf der Bühne. Gefolgt von DJ Ritu, Bobby Friction (der später zum Berner Resident-DJ wurde) und Kingsuk Biswas. In 2010 kamen wir zurück in die Reitschule und organisierten das erste Norient Musikdokumentarfilm Festival. Das Reitschule Kino war jeden Abend ausverkauft. Verschiedenste Leute kamen – vom ehemaligen Nationalrat bis zur jungen Gymnasiastin. Wir werden nächstes Jahr eine zweite Ausgabe veranstalten. Im September werden wir zudem unsere Performance “Sonic Traces: From the Arab World” gemeinsam mit PRAED in der Grossen Halle der Reitschule präsentieren. Wir bleiben. In jedem Fall.

Freie Kultur braucht freie Räume. Wenn Rechtsaussen-Politiker jede Stadt in einen Platz ohne Kanten, in ein künstliches Disneyland verwandeln wollen, müssen wir kämpfen. Wenn die Gentrifizierung beginnt, wenn die ganze Welt zu H&M, Coca Cola und Starbucks wird, wenn Spekulanten und profitgierige Politiker zerstören, was die Menschen gebaut haben, wird es höchste Zeit, dass wir uns wehren. Die Reitschule hat das erfolgreich getan und wird wohl auch die fünfte Volksabstimmung gewinnen. Ich ermutige alle, für Orte wie die Reitschule zu kämpfen. Wir brauchen eine globale Reitschule. Hurra…!

P.S.: Lustig ist, jedes Mal, wenn Rechtsaussen-Politiker die Reitschule schliessen wollen, mobilisieren sie die ganze kreative Gemeinschaft der Stadt Bern. Diese produziert dann wunderbare Sachen, um ihre Solidarität mit diesem Ort kund zu tun. Soeben wurde eine CD und mehrere Videos veröffentlicht . Der Song «Erich, warum bisch Du nid Ehrlich?»1 vom Radio-Komiker Müslüm (eine Art Schweizer Version von Borat/Ali G.) hat sogar die Hitparade erobert. Mehr dazu hier.

  • 1. Erich J. Hess ist der rechtsnationale Politiker, der für die Volksabstimmung über die Reitschule verantwortlich ist.

Biography

Michael Spahr (VJ Rhaps) is a historian MA, journalist, and media artist. He was on the board of Norient from 2008 until 2014. He developed the website norient.com. He was the co-founder and co-director (2009–2014) of the Norient Musikfilm Festival. He contributed with his video art to the audio-visual scientific media performances of Norient. He was the host and DJ of Norients monthly radio show Sonic Traces on Radio RaBe. He works as a freelance artist, film maker, and journalist in Bern (Switzerland). Website: www.rhaps.com.

Published on August 28, 2010

Last updated on October 13, 2019

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