Bei Katalonien war und ist in den letzten Jahren musikalisch vor allem die Rede von der sogenannten Mestizo-Szene Barcelonas. Der Frankospanier Manu Chao, bis heute Bewohner und bunter Hund der katalanischen Metropole, hatte dort jene stilmixende, politisch wache Bewegung von Musikern aus aller Welt angezettelt. Die Szene treibt weiterhin neue, wenngleich nicht unbedingt neuartige Blüten, spinnt ihre Fäden – über Barcelona und über Spanien hinaus – zwischen Europa und den beiden Amerikas. Doch vielleicht auch gerade angesichts an Originalität und Individualität verlierender, sich wiederholender Stilelemente wollen viele der «Mestizos» längst nicht mehr mit diesem Etikett versehen werden.
Ihr Name fiel oft, wenn sich die Fachbesucher der Weltmusikmesse WOMEX im Oktober 2010 in Kopenhagen darüber austauschten, wen der dort auftretenden Künstler sie am besten fanden. Las Migas waren für viele, unabhängig vom musikalischen Gusto, die grosse Offenbarung. 2004 gegründet, machte sich das Frauenquartett – eine Katalanin, eine Andalusierin, eine Französin und eine Deutsche – schnell einen Namen. Die Gitarristin Marta Robles aus Sevilla – sprachgewandt, voller Humor und nicht zu bremsender kreativer Unruhe – kam über die Klassik zum Flamenco. Aus Deutschland kommt die weit gereiste Violinistin und Akkordeonistin Lisa Bause. Die Bretonin Isabelle Laudenbach tauschte ihre wissenschaftliche Karriere gegen die einer Flamencogitarristin aus. Vervollständigt wird das Quartett von Sílvia Pérez Cruz aus Empordà, dem Hinterland der Costa Brava in der Provinz Girona, die unter anderem auch Saz spielen und Fado singen kann.
Las Migas, die mit Béla Bartók und anderer Klassik, Pop, Jazz, Tango und Bossa Nova ein riesiges Spektrum an Einflüssen haben, einte von Anfang die Liebe zum traditionellen Flamenco. «Wir alle wollten ihn damals erforschen. Er wurde unser musikalischer Ausgangspunkt, von dem wir uns mal mehr, mal weniger entfernen – ganz ohne Zwang und Plan. Unseren grossen, demütigen Respekt vor dem Flamenco wollten wir im Bandnamen ausdrücken. Wir sind ‹die Krümel› von dem Brot, welches der Flamenco ist. Migas heisst auch ein in ganz Spanien verbreitetes Gericht, ursprünglich ein Armeleuteessen, das je nach Region ziemlich deftig ist», fügt Sílvia Pérez Cruz schmunzelnd hinzu.
Eher kalorienarm, aber reich an Stilen, Farben und Atmosphären ist die musikalische, vor allem mediterrane Rezeptur der Band. In ihrer Instrumentierung klug dosiert und extrem sinnlich, muten die dreizehn Lieder ihres ersten und bislang einzigen Albums Reinas Del Matute an. Der gefühlsintensive, betörende Gesang von Pérez Cruz bildet dabei den roten Faden, um den sich die sensibel und ausgewogen gestalteten Klänge der Instrumentalistinnen ranken. Für die Aufnahme der Eigenkompositionen und originell neu arrangierten Traditionals wie «La Tarara» konnten die sympathischen und attraktiven jungen Frauen wunderbare spanische Musikerkollegen gewinnen, wie den Flamencogitarristen und Tres-Spieler Raúl Rodríguez oder Javier Colina. Mit ihm, dem renommierten Flamenco-Jazz-Kontrabassisten, ist die experimentier- und sangesfreudige Vokalistin derzeit ebenfalls unterwegs.
Zu den diversen Parallelprojekten Pérez Cruz’ gehört auch die Duoarbeit mit dem in Barcelona lebenden Percussionisten und Hangspieler Ravid Goldschmidt aus Israel. Der musikalisch essenzielle Dialog zwischen Stimme und Hang, diesem der Steeldrum ähnlichen, in der Schweiz patentierten Instrument, betörte auch die Gäste des Meet Catalan Folk im Februar letzten Jahres in Barcelona. Bei dieser 2009 zum ersten Mal durchgeführten Veranstaltung werden Jazz und sogenannte «Weltmusik» aus Katalonien Festival- und Konzertorganisatoren aus aller Welt vorgestellt. Organisator ist das ICIC, das Katalanische Institut für Kulturindustrien. Diese 2001 in Barcelona gegründete, mit der Regierung Kataloniens assoziierte Institution, agiert heute von fünf europäischen Metropolen aus. Sie ist auf den wichtigsten internationalen Musikmessen und Kulturmärkten, zum Beispiel der WOMEX und der Jazzahead in Bremen präsent.
«Für junge Bands aus Katalonien ist es bisweilen schwierig, sich einem internationalen Fachpublikum vorzustellen», sagt Neus López von der Berliner ICIC-Filiale. «Mit dieser zweitägigen ‹Mini-WOMEX› wird eine Plattform für beide Seiten geschaffen, eine eher informelle, entspannte Möglichkeit der Begegnung, bei der umgekehrt die Veranstalter auf Bands aufmerksam werden, die sie so eventuell nie kennengelernt hätten. Entsprechend positiv ist die Resonanz aller Beteiligten.» Der prallvolle Festivalkalender enthält nicht nur zahllose Veranstaltungen in Barcelona, sondern auch etliche weitere solcher Marktplätze einheimischer Musik in der Provinz, wie die Fira Mediterrània im siebzig Kilometer nördlich von Barcelona gelegenen Manresa oder der Mercat de Música Viva de Vic.
Letztere ist eine in Spanien ihresgleichen suchende Kombination aus Fachmesse, Festival und Volksfest, mit einer dem TFF in Rudolstadt ähnlichen Stimmung. Der Mercat de Música Viva de Vic findet im September 2011 zum 23. Mal statt. Keiner, weder Newcomer noch Musiker oder Band der katalanischen Musikszene, kommt an diesem mittlerweile fünftägigen Ereignis in dem kleinen Städtchen vorbei. Dort wird einem anhand der auftretenden Künstler bisweilen auch klar, wie weit der katalanische Sprachraum reicht: von Katalonien inklusive des südfranzösischen Roussillon, über Valencia, die Balearen, Andorra, bis zur sardischen Stadt Alghero mit ihrer katalanisch sprechenden Minderheit. Das Kultivieren der eigenen Sprache in Kunst und Kultur wird von aussen gerne schnell als nationalistisch gewertet. Dabei kann dieser «Katalanismus» sich durchaus mit Weltoffenheit und Weltgewandtheit ergänzen. Dies beweisen genügend katalanische Musiker ganz unterschiedlicher Couleur. Etwa die Mallorquina María del Mar Bonet: Die mit eigener Volksmusik und der Protestliedermacherbewegung Nova Cançó sozialisierte, grosse Stimme des Mittelmeers tritt in ihrer Sprache weltweit mit Musikern in Dialog.
Mit ihr und vielen anderen katalanischen Kollegen tat und tut sich auch Miquel Gil zusammen. Der facettenreiche Troubadour aus dem kulturell reichen Valencia versprüht in seiner Musik wie kaum ein anderer die unterschiedlichen mediterranen Aromen. Diese auch in entlegenere Liedkulturen zu kanalisieren, gelingt ihm ähnlich mühelos, wie seine Brückenschläge zwischen Moderne und Tradition. «Mich reizt es, mit der traditionellen Musik ganz nützlich umzugehen. Sie ist wahrlich ein immaterielles Kulturerbe, das kein harter Stein wie der einer Burg oder eines Doms ist. Allerdings auch eines, das vielleicht bislang nicht genug genutzt wurde, recht unbekannt war, durch den Wandel von der ländlichen zur Industriegesellschaft im 20. Jahrhundert einen Verfall erlebte. Doch kann aus meiner Sicht von dieser Dekadenz schon seit Jahren keine Rede mehr sein, denn dieses einst verfallene Klanggebäude wird wieder aufgebaut.» Ein Poet vor dem Herrn ist Gil, der sich für seine Arbeit aber auch gern bei anderen Barden bedient. So versammelt die aktuelle CD ins Katalanische und Spanische übersetzte, mit dieser markanten, charakterstarken Stimme gestaltete Lesarten von Stücken so unterschiedlicher Songpoeten wie Paolo Conte, Bob Dylan und Atahualpa Yupanqui.
Ein weiteres Kuriosium ist der bei uns kaum bekannte Liedermacher Albert Pla aus der Industriestadt Sabadell. Dem Antihelden unter den Barden hängt man auch ausserhalb Kataloniens, in ganz Spanien sowie in Lateinamerika an den Lippen – egal, ob er seine kauzigen Gesänge auf Spanisch oder Katalanisch anstimmt.
Mit ihm tat sich auch schon die charismatische Sängerin und Schauspielerin Lídia Pujol aus Barcelona zusammen. Die einstige «spanische Chrissie Hynde» tobt sich gesanglich in vielen Genres und Sprachen aus, in jiddischer und mittelalterlicher Musik, in Rock, Pop und Jazz. «Ich bin ein Produkt dieser ‚Franco-Kastration‘, gehöre der Generation an, die sich nach Francos Tod vom Katalanischen abwandte. Und so interessierte mich unsere Protestliedkultur damals musikalisch auch nicht, ich fühlte mich in dieser Szene wie ein Alien.» Doch dann, vor nunmehr etwa fünfzehn Jahren, hat die heute 42-Jährige ihre «Ursprache» als musikalisches Ausdrucksmittel für sich wieder- bzw. neu entdeckt. Das wohlklingende Ergebnis dieser Rückbesinnung dokumentieren die beiden letzten, auch hierzulande erschienenen Alben.
Auch der Flamenco wartet in Barcelona und Umgebung seit langem mit herausragenden Künstlern auf, mit Gitarristen wie Chicuelo und Sängern wie Duquende, Miguel Poveda oder Mayte Martín. Sie schreiben mit ihren Kollegen der spanischen Hauptstadt massgeblich mit an der Geschichte dieser ursprünglich andalusischen Musiktradition. Wenngleich auf ihre ganz eigene Art – da ist sich die cantaora Ginesa Ortega sicher, eine weitere innovative Schlüsselfigur der Szene, die derzeit auch mit Migas-Gitarristin Marta Robles zusammenarbeitet: »Der Flamenco in Katalonien hat nichts mit dem in Madrid oder in Jerez zu tun. Ohne die Ursprünglichkeit des Flamenco zu vernachlässigen, haben wir hier in Barcelona einfach ganz viele weitere Einflüsse. In Andalusien ist er viel ‹purer›, dort wäre ich sicher nie auf die Idee gekommen, mich einem Avantgardeprojekt wie La Fura dels Baus anzuschliessen. Die Mentalität ist eine andere und übersetzt sich einfach in einen anderen Flamenco.»
Auch die weit gereiste und unter vielem anderen von dieser Musik gespeiste Rumba Catalana hat in ihren knapp sechzig Lebensjahren den vermeintlichen Spagat zwischen stilistischer Weltläufigkeit und lokaler Verwurzelung offenbar gut verkraftet. Diese im Grunde erste, originär barcelonische „Weltmusik“ wurde von katalanischen Gitanos in den Fünfzigern aus Flamenco-Rumba, kubanischer Musik und Rock’n’Roll patentiert und wird von den jungen Mestizos heute als die Urmutter jeglicher musikalischer Vermischung hofiert.
Ihr ungekrönter König Peret möbelte einst diese äusserst schelmische Tanzmusik unter anderem mit Funk noch weiter auf und trug sie in die Welt. «Damals, Ende der Fünfziger, machten vor allem Deutsche Urlaub an der Costa Brava. Sie kamen in das Lokal, in dem ich arbeitete, und hörten meine Lieder. Anschliessend gingst du zum Strand und hörtest deutsche Jugendliche all das singen: ‹Lola›, ‹La Noche Del Hawaiano› … Ihr Deutschen wart wirklich die allerersten, die Rumba Catalana hörten!» Der heute 72-jährige Gitano aus Mataró, nahe Barcelona, ist nach einem längeren musikalischen Rückzug wieder da und putzmunter wie eh und je. Und wie früher spart er nicht mit sozialkritischen und politisch provokanten Botschaften in seinen stiloffenen, in Spanisch und Katalanisch gesungenen Rumbas.
Ausgerechnet ein «payo», ein Nichtzigeuner, noch dazu einer aus dem fernen Buenos Aires, Gato Pérez, wird bis heute als massgeblicher Modernisierer der Rumba Catalana verehrt. Der Wahl-Barceloner, der sich der Lebensart der Gitanos verbunden fühlte, widmete sich ab den Siebzigern nahezu ausschliesslich dieser Musik. Nach Pérez’ frühem Tod 1990 setzten einige seiner katalanischen Mitmusiker den von ihm eingeschlagenen, stark an Latin orientierten Kurs mit ihrer neuen Band AiAiAi fort. Von Anfang intonierten diese Rumberos ihre Lieder ausschliesslich auf Katalanisch, um nach dem vielen Touren mit ihrem argentinischen Kollegen «wieder mehr zu Hause schlafen zu können», wie der singende Frontmann Rafalito Salazar durchaus ironiefrei scherzt.
AiAiAi integrierten ebenfalls von Anfang an andere angesagte Musikstile und viele seelenverwandte wie artfremde Kollegen. Ein Vorgehen, das laut Pep Lladó, dem Tastenspieler und Hauptkomponisten der Band, speziell in der Hafenstadt Barcelona Methode und Tradition hat. «Während anderswo, etwa in Frankreich oder Deutschland, fremde Musikkulturen studiert und dann eher im ‚puren‘ Zustand genossen und konserviert werden, scheint es mir hier genau umgekehrt zu sein. Wir bewahren diese von anderswo kommenden Musiken nicht in ihrer ursprünglichen Form, betrachten sie nicht von aussen, sondern integrieren sie in unsere Musik, und das seit Jahrzehnten. Auch mit der Rumba läuft es so, sie repräsentiert für mich eher dieses Prinzip als eine musikalische Spielart.» So ist es nicht verwunderlich, auf dem aktuellen Album von AiAiAi mit dem augenzwinkernd grossspurigen Titel Lo Més Gran Del Món (katal. Das Grösste der Welt) den Mitgliedern des Massilia Sound System zu begegnen, diesen auf Okzitanisch singenden Reggaepionieren aus Marseille. Des Weiteren geistert der in Barcelona lebende Brasilianer Wagner Pá mit seinem Kauderwelsch aus Portugiesisch und Katalanisch in einer auf Tablaklängen lässig wippenden Reggae-Rumba herum.
Würde man Verbindungslinien ziehen zwischen den aus allen Himmelsrichtungen, vorneweg aus Lateinamerika und Afrika kommenden Musikern und Bands, die in Konzerten oder im Aufnahmestudio in Barcelona gemeinsame Sache machen, dann käme dabei ein undurchdringliches Strichknäuel heraus. Zwar ist die katalanische Metropole längst kein Mekka mehr für Strassenmusiker – entgegen ihres weltweiten Rufs als liberales Biotop und Paradies der Kreativen. Und doch wertschätzen diese die Stadt nach wie vor als kulturellen Umschlagplatz, der dank seiner Mittelmeerlage ideale Relaisstation zwischen Nord und Süd ist.
Davon profitiert auch der Akkordeonist und Sänger Joan Garriga – ein wahrlicher Weltbürger mit katalanischer Verankerung. Der zierliche, musikalisch lautstarke Mann ist in der Kleinstadt La Garriga im Windschatten Barcelonas zu Hause, wo er mit seinen Musikerfreunden eine ausgediente Mineralwasserfabrik zum Lebensraum und Aufnahmestudio umfunktioniert hat. Der einstige Frontmann der erfolgreichen Mestizo-Band Dusminguet manövriert heute ein Kollektiv mit dem kämpferisch klingenden Namen La Troba Kung-Fú geschickt durch die mitreissenden Fahrwasser von Rumba Catalana, Cumbia, Hip-Hop oder Country. Gesungen wird überwiegend auf Katalanisch, hier und da auch auf Englisch oder Spanisch.
«Wir kamen mit der ersten Platte viel rum, Mexiko, New York, Holland, Belgien. Reisen ist für mich eine Lebensform, genau deshalb mache ich Musik. Aus der Idee, die nächste Platte zur Chronik all dieser Reisen und Orte zu machen, wurde am Ende nichts. Irgendwann mussten wir uns einfach in unserem Studio verschanzen, ‹im Ochsenbauch›.» So der Name des kürzlich erschienenen, zweiten Studioalbums, A La Panxa Del Bou, auf dem man – wie schon früher bei Dusminguet geschehen – in eine alte katalanische Geschichte eingeweiht wird. Und zwar die «von dem winzigen Kerl namens Patufet, den seine Eltern wegen seiner Kleinheit nicht aus dem Haus lassen. Doch er hat eine unbändige Neugier und Lust, die Welt kennenzulernen. So besteht er darauf, hinauszugehen, und beruhigt seine Mutter: ‹Ich werde singend durch die Strassen gehen und dadurch unbeschadet bleiben.› Und spazierend singt er: ‹Ihr Männer und Frauen mit eurem hohen Kopfe, tretet nicht auf Patufet!›» Etwaige Ähnlichkeiten oder Verbindungen zwischen der populärsten katalanischen Kinderfigur und der Region, aus der sie stammt, sind rein zufällig.