Alpentöne Festival.

Höhenrausch statt Massenkultur

Eindrücke vom zweiten Alpentöne Festival in Altdorf von 2001.

Für das erste eigenartige Festival Alpentöne vor zwei Jahren interessierten sich am Anfang wenige, am Ende viele; die Aufmerksamkeit für die Zweitaustragung des Musikfestivals in Altdorf nun war von Beginn an gewaltig: Bundesrätin Dreyfuss sprach zur Eröffnung. Radio DRS 2 übertrug am Samstag live. Das Knipsen zahlreicher Pressephotographen ging des Öfteren in die Musik über. Und auch das Fernsehen DRS markierte Präsenz, zeigte unter anderem den eindrücklichen Film «In Land» des Filmregisseurs Pierre-Yves Borgeauds über das Duo Stimmhorn. Die Schweiz, so scheint es, hat ein neues, bedeutendes Festival, das Publikum erschien in Scharen, das Festival Alpentöne war nahezu ausverkauft.

Die drei Tage in Altdorf straften Gesetze der Pop- und Event-Industrie Lügen: Das Festival verzichtete praktisch auf «Stars», kam mit vielen wenig bekannten Musikern aus, darunter viele Grenzgänger zwischen Volksmusik, Jazz, Klassik, und setzte auf Premieren und Exklusiv-Projekte. Die selten leichte Kost, die der Schweizer Mathias Rüegg, der Leiter des renommierten Vienna Art Orchestra und Programmdirektor des Festivals in Altdorf, seinem Publikum zumutete, fand breite Akzeptanz.

Meist setzte Rüegg auf Musiker, die ihre Konzerte nicht von A bis Z straff organisierten, nicht unbedingt von Anfang bis Ende nur grossartig waren, vermeintliche Tiefflüge aber zumeist mit Risikobereitschaft und Humor wettmachen konnten. Unkonventionell tönten die Alpen in Altdorf. Die Musiker jedoch nahmen ihr «Anders-Sein» nicht allzu ernst und freuten sich uneingeschränkt am Spiel: sei es am Jonglieren mit kuriosen Instrumenten oder am Musizieren im Reussdelta am sonntäglichen Klang-Spaziergang. Profis konzertierten neben Amateuren, beflügelten sich gegenseitig; und wenn mal etwas nicht klappte, lachte man sich an, nicht aus.

Alpentöne Festival.

Glanzlichter gab es viele. Da war die Mnozil Brass Band, die rund um die Uhr auf Altdorfs Plätzen auf höchstem Niveau klamaukte, da war der österreichische Saxophonist Max Nagl, der mit den zweiundzwanzig Seinehonsingers ein altes Epos mit spannend gruppierten Sprechgesängen ins Heute übersetzte, da waren das Collegium Musicum Uri und der österreichische Gitarrist Wolfgang Muthspiel, die zwischen Interpretation und Improvisation pendelten und dem «Guggisbergliedli» und Co. Kronen aufsetzten.

Alpentöne Festival.

Dass ein experimenteller Ansatz in der Volksmusik «beim «Volk» gefragt ist», wie der Hackbrettspieler Töbi Tobler jüngst in einem Gespräch behauptete, bewies dieser am Sonntag beim Auftritt mit den Geigern Paul Giger und Arnold Alder, dem Cellisten Fabian Müller und dem Kontrabassisten Francisco Obieta gleich selber auf eindrücklichste Weise. Die fünf Mitglieder des Neuen Projektes Original Appenzeller Streichmusik schufen eine Musik, wie sie nur selten zu hören ist. Jede Note, jeder Bogenstrich, jeder Hackbrettschlag war raffinierter Klang. Meist schwamm die Streichmusik über längere Zeit disharmonisch in Zeitlupe, ehe sie sich zu einer traditionellen Melodie hochschwang und die Eigen- und Schönheiten der Appenzeller Musik betonte. Zwischendurch sang sich der Jodlerclub Herisau-Säge durch kräftige Klanglandschaften - ein sinnvoller Kontrast.

Alpentöne Festival.

Alles allerdings war nicht gut in Altdorf, der Grat zwischen Erfolg und Misserfolg des Festivals erwies sich manchmal als schmal - zu viel Kommerz und musikalische Tiefflüge sollte man sich nicht leisten. Auf die Bavarian Dance Night mit der höchstens lustigen Provinzband Hundsbuam, der Retortenschönheit Zabine und der Combo Edelschwarz etwa hätte man verzichten können. Letztere allerdings wusste am Samstag bis um drei Uhr früh wenigstens mit ihrem kompromisslosen Mix aus Handorgeln, Stromgitarren und Elektrobeats zu überraschen.

Nicht immer also trat die Crème de la crème an, dennoch waren in der Mehrheit Musiker zu hören, die Eigenes zu entwickeln und in überraschende Zusammenhänge zu bringen verstanden. Wenn das Festival auch in Zukunft diese Stärken betont und neue, originelle «Alpen-Projekte» aufspürt, wird es bleiben, was es heute ist: eines der eigenwilligsten und bemerkenswertesten Musik-Festivals der Schweiz.

Biography

Dr. Thomas Burkhalter is an anthropologist/ethnomusicologist, AV-artist, and writer from Bern (Switzerland). He is the founder and director of Norient and the Norient Festival (NF), co-directed AV-performances and documentary films (e.g. «Contradict», Berner Filmpreis 2020 + Al-Jazeera Witness), and is the author and co-editor of several books (e.g., «Local Music Scenes and Globalization: Transnational Platforms in Beirut», Routledge, «The Arab Avant Garde: Musical Innovation in the Middle East», Wesleyan University Press). He teaches regularly at universities, and runs workshops for arts institutions. Since 2022 he produces the Norient Mixtape for Swiss National Radio SRF3. Currently, he is working on his new music project «Melodies In My Head», and on the podcast series «South Asian Sound Stories» with musicians from the UK, Bangladesh, India, Maldives, Sri Lanka, and Pakistan. Follow him on Spotify, Research Gate, Academia.edu, Instagram, X, or Facebook.

Published on August 09, 2001

Last updated on October 13, 2019

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