Eine CD für die Reitschule Bern
Zum vierten Mal in den letzten 20 Jahren versuchen die SVP (Schweizerische Volkspartei) mittels einer Initiative das selbstverwaltete Kultur- und Begegnungszentrum in der Berner Innenstadt zu schliessen; jedes Mal sind sie gescheitert. Die Reitschule bietet mehr! Mit diesem Slogan macht das Abstimmungskomitee auf das vielfältige Kulturangebot der Reitschule aufmerksam, das sich gegen die Monokultur des Marktdiktates stellt und trotz bescheidenen finanziellen Mitteln szenen-, genre- und generationenübergreifend am Puls der Zeit bleibt.
Vielleicht hat es auch für die Kulturschaffenden in der Reitschule sein Gutes, dass der Fortbestand ihres Zentrums mit schöner Regelmässigkeit durch eine Volksinitiative bedroht ist. Es könnte ihnen beispielsweise das Ausrichten eines Jubiläums ersparen. Die bei runden Geburtstagen obligaten Fragen – woher man kommt, wozu man eigentlich da ist und wohin der Weg noch führen könnte – stellt man sich im Kulturzentrum ohnehin immer dann, wenn eine Abstimmung ins Haus steht. Also: sehr oft in letzter Zeit.
Gedächtnis, Herz und Verstand
Auch die CD-Vernissage vom 5.8.2010 im Frauenraum war eine Sache für das Gedächtnis, den Verstand und das Herz. Zuerst ging es aber um den Bauch – genauer: die Wut daselbst. Denn, so erklärt Kollektivmitglied David Böhner den geladenen Medienvertretern: «Es scheisst schon an, ständig solche Abstimmungskämpfe führen zu müssen. Aber wir müssen halt.» Weil sich die Reitschule einerseits bei vielen Musikern in Bern grosser Beliebtheit erfreut, andererseits so ein Abstimmungskampf viel Geld kostet, das irgendwie wieder reinkommen muss – deshalb hat man sich in der Reitschule entschlossen, das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden und eine CD mit Beiträgen von 22 zugewandten Berner Bands zu veröffentlichen. Übrigens der erste CD-Release in der Geschichte der Reitschule.
«Saubere Büez»
Vom allerersten Konzert in der Reitschule berichtet anschliessend Zeitzeuge und Züri-West-Frontmann Kuno Lauener. Die Erzählung dreht sich um einen kanarienvogelgelben Ford Transit, neblige Nächte, 1'000 unruhige Jugendliche, ein aufgebrochenes Türschloss und rauschende illegale Partys. Weil ihm seine Rolle als Geschichtenonkel dann aber doch nicht ganz geheuer zu sein scheint, kürzt Lauener, gerade als es so richtig gemütlich zu werden droht, ab: «Eine alte Geschichte» sei die Beziehung zwischen Züri West und der Reitschule. Beide seien sie schon seit langem da. Beide machten sie immer noch eine, wie er findet, «saubere Büez». Und beide gehörten sie einfach zu Bern dazu: «Hopp Reitschule! Hopp Züri West! Hopp YB!» Das Gedächtnis, oder bei den jungen Besuchern die Fantasie, ist ausreichend stimuliert. Danke.
Ans Herz und den Verstand appellierte zuvor die Berner Rapperin Steff La Cheffe, die wie Züri West einen bisher unveröffentlichten Song zum «Reitschule beatet mehr»-Sampler beigesteuert hat. So etwas wie eine Erleuchtung habe sie bei ihrem ersten Besuch in der Reitschule erlebt. Sie erinnert sich an die vielen spannenden Leute, die sie kennen lernen, und an die Möglichkeiten, die sie an dieser Adresse entdecken durfte. «Die Reitschule ist ein ideales Umfeld, um sich zu engagieren, um zu diskutieren und um Kultur zu machen.» Letzteres liegt Steff La Cheffe besonders am Herzen: Ihre ersten musikalischen Gehversuche hat sie an der Offenen Bühne im Restaurant Sous Le Pont und an den Hip-Hop-Jams in der Einfluss-Bar gemacht. «Die Reitschule ist einer der wichtigsten kulturellen Schauplätze Berns. Und das soll auch so bleiben.» Damit waren auch Küse Fehlmann und Gert Stäuble von Züri West einverstanden: Und zwar «mindestens für die nächsten 30 oder 40 Jahre».
Zur CD «Reitschule beatet mehr»
Alle sind sie da! Die Crème der Berner Pop- und Rockmusikszene hat sich praktisch ohne Ausnahme auf dem Sampler «Reitschule beatet mehr» (Irascible) versammelt. Die Altvorderen von Züri West, Patent Ochsner und Stiller Has setzen sich hier ebenso für das Kulturzentrum ein wie die lokale Nachwuchsabteilung um Steff La Cheffe, Lily Yellow und Müslüm. Und immerhin 16 Künstler haben sogar einen bisher unveröffentlichten Song zu diesem schönen Stück einheimischen Schaffens beigesteuert. Darunter nicht wenige mit konkret politischem Inhalt: Pedro Lenz collagiert in «Dr Buebli-Troum» bedrückende Slogans des Kommerzdenkens, Tomazobi lassen den Initianten Erich Hess gleich selbst Ansagen durchgeben, und der formidable Rapper Müslüm fragt ganz naiv: «Erich, warum bisch nid ehrlich?»
Die CD zur Abstimmung am 26. September 2010 mit Songs von Stiller Has, Kutti MC, Patent Ochsner, Kummerbuben oder Filewile. Inkl. etliche exklusive, bisher nicht veröffentlichte Tracks u.a. von Züri West, Steff la Cheffe, Tomazobi, Baze, Sophie Hunger, Churchhill oder Beat Man. RELEASE: 6. August 2010 (Endorphin Entertainment/Irascible)
Trackliste
01 Pedro Lenz & Paed Conca • Dr Buebli-Troum *
02 Steff la Cheffe feat. Namusoke • Down Babylon *
03 Tomazobi • Häsli *
04 Revolting Allschwil Posse • Summer * (Copy & Paste Remix)
05 Reverend Beat Man • Reithalle *
06 Tight Finks • High Definition Rock’n’Roll
07 Churchhill • Stressmithess? *
08 Filewile • On The Run feat. Pedro Da Silva Pinto
09 Baze • Tanzet! *
10 Patent Ochsner • Vohinger + Vovor
11 Kummerbuben • Lügemärli
12 Lily Yellow • Grazed by a Dream *
13 Züri West • Lue zersch wohär dass dr Wind wääit * (live im Dachstock 25.12.2001)
14 Sophie Hunger • Your Personal Religion * (Davout Session)
15 The Jackets • Vitamin 25 *
16 Mani Porno • Fuchs *
17 Kutti MC • Ab hüt
18 Krneta, Greis & Apfelböck • BRP *
19 Müslüm • Erich, warum bisch du nid Ehrlich? *
20 Stiller Has • König
21 Gamebois • Blood *
22 Youngblood Brass Band • Brooklyn * (live im Dachstock 5.6.2010)
* Exklusive bisher unveröffentlichte Tracks
Kurze Ausschnitte aus den Track gibt es hier.
Biography
Published on August 06, 2010
Last updated on April 30, 2024
Topics
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