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Der Rhythmus der Dinge

Julian Sartorius ist kein Schlagzeuger, der brav Stöcke und Besen schwingt. Sein Spiel ist ständige Klangforschung. Neulich hat Sartorius das Album «No Compass Will Find Home» des britischen Pop-Künstlers Merz frisch vertont.

Ausgerechnet Julian Sartorius. Vor einem Monat kam dem Musiker auf der Zugfahrt von Italien im Cisalpino zwischen Mailand und Bern ein riesiger Koffer voller Instrumente abhanden. Die handgefertigten Gongs, die Präparationen, die quietschenden Plasticspielzeuge; all die über die Jahre auf drei Kontinenten akquirierten Soundquellen: perdu! Wohl gestohlen. Für Julian Sartorius, den berufenen Drummer, Instrumentensammler und Klangforscher, ein katastrophaler Verlust. Ein Worst-Case-Szenario.

Silo und Münster

Ein paar Tage zuvor in Sartorius' kleinem Atelier in der Berner Dampfzentrale. Welches Instrument er gerne besitzen würde, fragt man ihn. «Ein Silo! Das ist fünfzehn Meter hoch, und man erzeugt einen 20-Sekunden-Hall, wenn man darauf trommelt.» Kein Silo zwar, aber immerhin das Berner Münster hatte Sartorius im August mit dem Organisten Daniel Glaus und dem Poeten Jürg Halter alias Kutti MC in Beschlag genommen. Während Halter eingangs scherzend bemerkte, dass sie nicht unbedingt Gospel spielten, meinte Julian Sartorius zum Experiment lapidar: «Es kommt gut.» Und es kam gut, dieses Miteinander von Klang und Poesie. Ein furioses und doch irgendwie sanft geknüppeltes Solo-Intro von Sartorius. Und ganz zum Schluss schwebte Halters gläserne Stimme durchs Kirchenschiff: «Ich gehe ganz langsam ins Licht. Bin nicht mehr als die Stimme, die spricht.»

Am liebsten möchte sich wohl auch Sartorius während seiner Darbietungen auflösen: im Rhythmus seiner mehr oder weniger für die Perkussion bestimmten Resonanzkörper, mitten im mehr oder weniger improvisierten Trommelfeuer. Aus fast allem schöpft Julian Sartorius Klang und Rhythmus. Hauptsache, es tönt interessant. Dieser Musiker kartografiert die Welt in Trommelschlägen. Im Naturhistorischen Museum Bern konnte man ihn schon erleben, wie er auf einem Dachsschädel und auf einer Schlangenhaut herumdengelte.

1981 in Thun geboren, absolvierte Sartorius die Jazzschulen in Bern und Luzern. Bekannt wurde er zunächst an der Seite von Sophie Hunger, die er auf über 200 Konzerten begleitete. Man kennt ihn unterdessen aber auch von seinen Kollaborationen mit dem Elektronik-Tüftler Dimlite oder mit dem Jazzpianisten Colin Vallon.

Mit seinem Projekt «Beat Diary» widmete Sartorius das Jahr 2011 der persönlichen Klangforschung. 365-mal bastelte er einen Beat, dazu knipste er ebenso viele Bilder. Ende 2012 erschien das musikalisch-fotografische Tagebuch als aufwendig produzierte Vinyl-Box auf dem Berner Label Everest Records. Eine Sammlung semibiografischer Grooves, gefundener und inszenierter Sounds: Ballone rumoren, Fensterläden klappern, Gras raschelt unter Sartorius' Stöcken. Und die elektrische Zahnbürste surrt im Duett mit dem Föhn.

Leichte Kost ist es nicht. Einmal zum Beat gedrechselt, ächzen und knarzen diese Sound-Miniaturen. Und doch ist da eine Luftigkeit: Ein ständiges Flirren, Krabbeln und Wuseln, eine Art Weltsummen beseelt diese Musik. Alles ist in Bewegung, auch weil Sartorius das Unfertige, das Neue interessiert, von dem noch ungewiss ist, wohin es sich bewegt. – So verhält es sich auch mit den Collagen aus Bild und Klang, die Julian Sartorius für sein neues Tagebuch-Projekt ins Netz stellt. Sartorius: «Bei «Morph» zählt nicht das Endergebnis, sondern, wie der Name schon sagt, die stetige Veränderung.» Die Spielregeln, die er sich diesmal gesetzt hat: Jeden Tag sollten ein visuelles und ein akustisches Element verändert werden. Optisch sah das Ende Januar etwa so aus: Aus schwarz-weissen Winterlandschaften schält sich ein kaleidoskopischer Himmel heraus; plötzlich zieht ein Sturm auf, und dann sind da nur noch eckig-bunte Schnipsel, ein Hauch von Konfetti. Und dazu das akustische Pendant: Kuhglockengebimmel, ein Synthi rattert, in der Ferne ein Vogelgezwitscher – eine halbwegs idyllische Klangszenerie; dann schlägt es um, der Groove stolpert, wird wilder und vertrackter.

Matthew Herbert und Merz

Einen prominenten Mentor hat Julian Sartorius in der Person des Klubmusik-Avantgardisten Matthew Herbert gefunden. Der britische Elektro-Pionier, der selber das tragische Leben eines Schweins vertonte und kürzlich Geräusche aus dem libyschen Bürgerkrieg für den Dancefloor sampelte (siehe Artikel auf Norient), gab sich als Fan von «Beat Diary» zu erkennen – «the music is brilliant». Nun erscheint das neue Album von Julian Sartorius – «No Compass Will Find Home» – auch auf Herberts Label Accidental. Parallel dazu wird es allerdings wiederum auch auf Everest Records veröffentlicht – dem Stamm-Label von Julian Sartorius.

Sartorius spielte für den Briten Conrad Lambert aka Merz die Drums auf dessen im Januar erschienenem Pop-Album «No Compass Will Find Home». Jetzt hat der Schlagzeuger nochmals neu Hand angelegt an der Produktion und Drum-Renditions rund um die Vocals von Merz eingespielt. Wie bei «Beat Diary» ist Sartorius wiederum ohne elektronische Effekte ausgekommen. Kuhglocken, Gongs, eine Mbira (Daumenklavier) und ein australisches Schwirrholz gehörten zum Instrumentarium.

Sartorius radikalisierte das ursprüngliche Material. Das überarbeitete Album nimmt sich wie ein mäandernder Tanz aus, der dann am zwingendsten ist, wenn die Bassline so prächtig rumpelt wie in «Toy». Schön auch, wenn Sartorius sich wie in «Goodbye, My Chimera» trommelnd scheinbar vergaloppiert. Auf «Arrows» wiederum, dem fünfminütigen Herzstück von «No Compass Will Find Home», hört man die Pfeile förmlich auf die Zielscheibe flattern. Volltreffer!

Happy End

Nach dem Malheur im Zug hatte Julian Sartorius geschlagene zwei Stunden auf dem Polizeiposten zu sitzen. Jedes einzelne gestohlene Stück musste protokolliert werden; weil das so viele waren, dauerte es lange. Schliesslich aber nahm die Geschichte eine überraschende Wendung: Nach zwei Tagen wurde der Koffer wieder gefunden. Nichts fehlte. Und weil sich Sartorius für einen Auftritt in Paris bereits mit neuem Material hatte eindecken müssen, ist sein Fundus an Perkussionsinstrumenten und Tonerzeugern nun noch imposanter.

Dieser Text ist zuerst erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung, am 15.11.2013.

Biography

Bjørn Schaeffner, 1970, wollte schon früh in den Journalismus. Schuld war wohl das Lustige Taschenbuch «Mickey, der rasende Reporter» . Seine erste grosse musikalische Liebe war Prince. 1990 wurde er im Amsterdamer Club Roxy zünftig elektrifiziert. 1998 begeisterte er sich für den Filterhouse von Motorbass, später für den Microhouse eines Isolée und avantgardistische Clubmusik. Seit 2003 arbeitet er als freier Mitarbeiter für Medien wie NZZ, Tages-Anzeiger, SRF2, de:bug, Groove, Resident Advisor, FACT und betreibt ausserdem die Podcastreihe Roof.fm. Follow him on LinkedIn.

Published on November 23, 2013

Last updated on July 02, 2020

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