Karikatur zum «Monster Konzert» von Louis M. Gottschalk im Fluminese Theater in Rio de Janeiro am 5. Oktober 1869 (lizensiert durch Wikipedia Commons).

Louis M. Gottschalk und der Karibismus

In der neuen Rubrik Future Academics stellt Norient Bachelor- und Masterarbeiten von Studierenden der Musikwissenschaft, Musikethnologie und der Popularmusikwissenschaft vor und fördert so den wissenschaftlichen Nachwuchs. Den Anfang macht Andres Pfister vom Institut für Musikwissenschaft der Universität Bern mit seiner Bachelorarbeit «Das Karibische in L.M. Gottschalks Musik, dargestellt anhand des 2. Satzes der Symphonie Romantique» (PDF der Arbeit hier).

Calypso, Son oder Rumba sind nur drei der unzähligen karibischen Musikgenres, die sich vor allem im vergangenen Jahrhundert aus Mischformen afrikanischer und europäischer Stile entwickelten und heute rund um den Globus gehört werden. Doch was ist es genau, was diese als karibisch erkennbar macht, und wo beginnt die Erfolgsgeschichte dieses Karibismus in der Kunstmusik? Gottschalk wird als erster Komponist angesehen, der Elemente afro-karibischer Musikpraxis in westliche Kunstmusik integrierte.

In meiner Bachelorarbeit «Das Karibische in L.M. Gottschalks Musik, dargestellt anhand des 2. Satzes der Symphonie Romantique» bin ich dieser Frage anhand des US-amerikanischen Komponisten Louis Moreau Gottschalk nachgegangen. Gottschalk wurde 1829 in Louisiana geboren. Seine Mutter stammte von französischen Siedlern aus Haiti ab, die mit ihrer Familie während der blutigen Revolution fliehen mussten. Sein Vater war ein englischer Geschäftsmann mit jüdischen Vorfahren. Louis Moreaus Eltern lernten sich im mondänen New Orleans kennen. Die Stadt war mit einer florierenden kreolischen Musikkultur – samt Opernhaus – idealer Nährboden für Gottschalks musikalische Kreativität.

Während in New Orleans bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts afrikanische Trommelrituale toleriert wurden, besuchten viele freie Schwarze, welche einen beachtlichen Bevölkerungsanteil ausmachten, die Opernaufführungen und gründeten auch ihre eigene Philharmonische Gesellschaft. Ausserdem bestand eine gute Fährverbindung nach Havanna, die das Mississippi-Delta wirtschaftlich und kulturell mit der reichen Stadt in der Karibik verband.

Kubanische Musik verarbeitete Gottschalk jedoch erst später, zur Zeit seiner Aufenthalte auf der grössten Antilleninsel in den 1850er-Jahren. Zu Beginn sind vor allem kreolische Lieder Grundlage für die musikalischen Einflüsse, welche ihm von Sally, der Sklavin seiner Grossmutter, vorgesungen wurden. Schon früh nahmen ihn seine Eltern mit auf Konzerte und in die Oper. Im Alter von fünf Jahren begann er Klavier zu spielen. Seine Eltern erkannten das musikalische Talent ihres Sohnes und ermöglichten ihm in seinem zwölften Lebensjahr die Überfahrt nach Europa.

Exotismus-Trend in Paris

In Paris trat Gottschalk seine Ausbildung zum Klaviervirtuosen und Komponisten an. Zwar wurde ihm ein Studium am berühmten Conservatoire de Paris verwehrt, trotzdem fand er durch Familienbeziehungen rasch geeignete Lehrer. Diese waren Charles Hallé, Frédéric-Guillaume Kalkbrenner oder Camille Stamaty für Klavierspiel und Pierre Maleden für Komposition. Gottschalk war regelmässig in Pariser Salons zu Gast, wo Intellektuelle wie Victor Hugo verkehrten. Er traf auf eine Salon- und Konzertkultur, in welcher die künstlerische Auseinandersetzung mit exotischen Sujets – sei dies nun in der Musik oder in der Literatur – im Trend war. In dieser Zeit komponierte Gottschalk seine ersten Stücke mit kreolischem Flair, das sogenannte Louisiana Quartet. Heute werden diese vier Stücke von vielen Forschern als Vorläufer des US-amerikanischen Rag Time angesehen.

«Bamboula»

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«La Savane»

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Gottschalk verarbeitet in seinen Klavierstücken, die technisch und formal an Kompositionen von Chopin, Liszt oder Thalberg angelehnt sind, kreolische Rhythmen sowie Melodien von kreolischen Liedern. Auf der rhythmischen Ebene sind es primär Synkopierungen und Off-Beat-Betonungen, die das Karibische Flair erzeugen. Im ersten Stück – «Bamboula» – imitiert die linke Hand des Pianisten eine afrikanische Trommel – wie sie Gottschalk möglicherweise am Congo Square in New Orleans gehört hatte. Das letzte Stück – «La Savane» – besteht aus Variationen der Melodie des Sklavenlieds «Lolette», das Gottschalk vermutlich während seiner Kindheit von Sally vorgesungen bekam.

«Poor Lolette» – Leon Bibb

Nach ersten gut besuchten Konzerten in Europa kehrte Gottschalk zu Beginn der 1850er-Jahre wieder nach Amerika zurück. Doch in New York konnte er nicht an die Erfolge anknüpfen, welche er in Frankreich, der Schweiz und in Spanien verbucht hatte. Der musikalische Puritanismus, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem in den östlichen Nordstaaten der USA herrschte, prägte die Hörkultur – nicht zu seinem Gunsten. Viele seiner Gegner, zu welchen beispielsweise der bekannte Musikkritiker John Sullivan Dwight gehörte, warfen ihm Effekthascherei vor und unterstellten ihm, er würde nur reine Unterhaltungsmusik ohne künstlerischen Wert komponieren. Diese schlechte Kritik war ein Grund dafür, dass Gottschalk noch im Jahr seiner Ankunft das Amerikanische Festland in Richtung Kuba verliess.

In Kuba war damals die Contradanza die populärste Musikform, in Havanna wurden sie sogar als Klavierpartituren gedruckt. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass sie nur am Klavier gespielt wurden. Auch wenn die Quellenlage spärrlich ist, kann mit Sicherheit gesagt werden, dass sich die Contradanza durch den Grad der Kreolisierung von Ort zu Ort stark unterschied. Während dem 19. Jahrhundert entwickelte sich aus der Contradanza der Danzon. Um diesen vorzutragen gründete der Kubanische Musiker Miguel Failde 1871 das erste Orchestra Tipica, das heute noch die Standardbesetzung für den Son darstellt.

«Contradanza» von Nicolas Ruiz Espadero

«Contradanza», wie sie auf den Strassen von Santiago de Cuba geklungen haben könnte

«Danzon» von Miguel Failde

Gottschalk war nun seinen musikalischen Wurzeln näher. In den folgenden Jahren verbrachte er viel Zeit auf den Antillen und wohnte Konzerten der Tumba Francesa Gesellschaften in Santiago de Cuba bei. Dieses Ritual, welches afrikanisches Trommeln mit europäischen Kontertänzen vereint, entstand im 18. Jahrhundert auf Haiti. Mit der Flüchtlingswelle ab 1791 fand es vor allen im östlichen Kuba weitere Verbreitung und wurde dort von der spanisch geprägten Politik in Vereinen institutionalisiert. Heutzutage existieren immer noch zwei Tumba Francesa Gesellschaften, welche vom Staat gefördert werden und vor allem Touristenattraktionen sind – vergleichbar mit Trachtengruppen in der Schweiz.

Tumba Francesa

Kubanische Einflüsse

Für seine erste Sinfonie, die 1860 in Havanna Premiere feierte, engagierte Gottschalk Trommler der Tumba Francesa Gesellschaften. Sie übernahmen den Part der Rhythmussektion. In der «Symphonie Romantique» ist es primär der zweite Satz, mit dem die Hörerinnen und Hörer einen karibischen Kontext assoziieren. Formal steht das Stück mit seinem programmatischen Titel ganz in der Tradition europäischer Musik der Zeit, vergleichbar etwa mit Berliozs «Symphonie Fantastique» oder Listzs «Sinfonischen Dichtungen». Auch die chromatisch gedachte Harmonik ist stark an europäische Kunstmusik angelehnt.

Gottschalk – Symphonie Romantique, 2. Satz «Une Fête sous les Tropiques»

Was ist es aber nun, was Gottschalks Musik karibisches Flair verleiht? Wie schon in den oben genannten Klavierstücken ist es zu einem grossen Teil der prägnante Rhythmus. Er bedient sich Cinquillopatterns (Dumdedumdum), die mit dem Sklavenhandel aus Westafrika in die Karibik kamen und typisch wurden für die afro-karibische Musik. Zu finden sind sie in Voodoo-Ritualen, der Santeria, der Tumba Francesa, der Contradanza oder im späteren Son, der Rumba und dem Chachacha. Ebenfalls bedient sich der Komponist des Habanera-Rhythmus. Besagte rhythmische Figur – oft als Ostinato verwendet - ist ebenfalls wichtiger Bestandteil der Contradanza und wurde im späten 19. Jahrhundert auch von europäischen Komponisten aufgegriffen. Diese verarbeiteten die Habanera in Zarzuelas, Opern sowie Instrumentalmusik. Aus der Vermischung afrikanischer Rhythmen und europäischer Kontertänze, gingen im Verlaufe der letzten beiden Jahrhunderte eine Vielzahl regionaler und globaler Musikstile wie der Calypso, der Son oder die Rumba hervor.

Wo genau der musikalische Karibismus begann, kann heute nicht mehr exakt bestimmt werden. Es steht jedoch fest, dass experimentierfreudige Musiker wie Gottschalk schon früh Gefallen an der Vermischung kreolischer Rhythmen mit europäischer Musik fanden. Wie genau sich diese Prozesse vollzogen haben, sollte noch weiter erforscht werden. Es zeigt sich jedoch deutlich, dass diese Prozesse schon lange Zeit vor der Erfindung der Tonträger einsetzten.

Biography

Nach einer Handelsschul-Ausbildung in La Neuveville und einem Jahr Berufserfahrung als Sekretariatsangestellter, entschied sich Andres Pfister seinen musikalischen und kulturellen Interessen zu folgen. Nach der Matura begann er im Sommer 2009 sein Studium in Musikwissenschaft und Sozialanthropologie an der Universität Bern, wo er 2013 seinen ersten Abschluss machte (BA of Arts in Musicology). Neben dem Studium leitet er die Redaktion der monatlichen Klassiksendung «Ostinato» bei Radio Bern RaBe. Ausserdem engagiert er sich für eigene musikalische Projekte und ist als Studierendenvertreter im Fachschschaftsvorstand der Musikwissenschaft und Sozialanthropologie aktiv.

Published on May 31, 2013

Last updated on February 23, 2022

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