Jiddischer Tango

Jiddischer Tango: «So Easily Assimilated»

Die Geschichte des jiddischen Tangos ist eine Geschichte der Übernahme und Anpassung, der Grenzziehung und -verschiebung, aber auch der Grenzüberwindung. Mit der Emigration jüdischer Musiker aus Osteuropa nach Argentinien vermischte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der boomende Tango mit osteuropäischen Sounds und dem Kolorit der jiddischen Sprache. Aus den Einwanderer-Quartieren in Buenos Aires reiste der jiddische Tango ans New York Yiddish Theatre und bald auch nach Europa. In der Zeit des Holocausts verbreiteten sich die melancholischen Lieder dort in Ghettos und Konzentrationslagern – und mit ihnen die Hoffnung auf Freiheit.

«Ich bin nicht jüdisch – aber auch nicht zu 100% nicht jüdisch» (Gelfand 2005). Diese eher scherzhaft gemeinte Selbstbezeichnung des argentinischen Tango-Musikers und Klezmer-Bassisten Pablo Aslan trifft im Prinzip auch auf den sog. «Tango Argentino» selbst zu. Der Tango entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Einwanderer-Quartieren der Hauptstädte Argentiniens und Uruguays, in denen neben Franzosen, Spaniern und Italiener auch viele Juden aus Europa, vor allem Osteuropa, ihr neues Zuhause gefunden hatten. Es ist bekannt, dass der Tango selbst – sowohl auf musikalischer wie auch choreographischer Ebene – ein hybrides, transkulturelles Phänomen ist, welches nicht zuletzt aus dem Mix der Kulturen der Einwanderer hervorgegangen ist. So trugen die Candombe der Kreolen und die afrokubanische Habanera ebenso zu seiner Entstehung bei, wie die polnische Mazurka, die böhmische Polka oder der österreichisch-süddeutsche Walzer und Ländler (Reichart 1984, 15–21; Béhague 2006).

Weniger bekannt ist jedoch die Rolle, die jüdische Musiker, Komponisten und Sänger in der Entwicklung des Tangos als einem musikalischen Genre spielten, bzw. welche Bedeutung dem Tango in der jüdischen Diaspora zugeschrieben wird. In diesem Kontext wird oft darauf hingewiesen, dass in den Anfängen des Tangos eben nicht das Bandoneon das charakteristische Instrument des Tangos war, sondern die Geige, Klarinette und Gitarre. (Reichart 1984, 60–64)

Jene Instrumente werden gerne den jüdischen Einwanderern zugeschrieben. Eher selten wird in diesem Zusammenhang jedoch danach gefragt, wie jüdische Tangomusiker jene neue Musik mit ihrer Sprache, dem Jiddischen, in Einklang brachten, bzw. wie es im Kontext der kulturübergreifenden Rezeption des Tango Argentino zur Herausbildung eines prononciert jiddischen Tangos kam. Der jiddische Tango wurde vor allem in den 1920er und 30er Jahren in Zentral- und Osteuropa verstärkt gespielt, und dort sowohl in die Klezmer-Szene als auch in die Szene des jiddischen Theaters integriert.

Wie Victoriah Szirmai (2006) in ihrer Arbeit zu Juden im Tango diskutiert, muss eine genaue Trennung zwischen dem, was wir als jiddischen Tango bezeichnen, und dem, was auf dem Weltmusikmarkt gerne als «jüdischer Tango» medial konstruiert und verkauft wird. Eine Unklarheit, die nicht zuletzt auch auf die lang andauernde «Unsichtbarkeit jüdischen Lebens in Lateinamerika» (Szirmai 2006, 24) sowie fehlender Forschung zum Thema basiert. Somit ist Szirmais Buch als eines der wenigen musikwissenschaftlichen Werke hervorzuheben, welches auf der Analyse und kritischen Betrachtung von Archivmaterial aus Berlin und Buenos Aires, Tangoliteratur in vielen verschiedenen Sprachen, unzähliger musikalischer Quellen sowie persönlicher Gespräche mit Experten basiert. Dadurch gelingt es der Autorin die weit verbreitete, irrtümliche Gleichsetzung von eines vermeintlichen «jüdischen» und jiddischen Tangos aufzudröseln, und Licht ins Dunkle zubringen. Zwar spielten Klezmerkapellen auch Tango, aber die Tatsache, dass jüdische Musiker Tango spielen, macht den Tango noch lange nicht zum «jüdischen Tango», wie Szirmai schreibt. Der jiddische Tango allerdings hat seinen Ursprung in den jüdischen Theatern in New York und Buenos Aires und basiert auf originären Kompositionen (Szirmai 2006, 14, 134f., 190f.) Letztere sind im Fokus dieses Beitrags.

Der Artikel wird versuchen eine Idee davon zu vermitteln, was der jiddische Tango ist. Nach einem kurzen Überblick über die jüdische Einwanderung nach Argentinien und die Rolle jüdischer Immigranten in der Geschichte des Tangos, wird im zweiten Teil des Artikels das Genre des jiddischen Tangos selbst skizziert und auf dessen Bedeutung im Kontext des Holocausts eingegangen.

II. Jüdische Einwanderung nach Argentinien

Das Zentrum des lateinamerikanischen Judentums ist Argentinien, genauer Buenos Aires (Foster 1998, 132–49). Wie kam es dazu? Argentinien, das bis 1813 aus rechtlicher Perspektive gesehen an sein spanisches Mutterland gebunden war, wurde unabhängig und schaffte – eher im Sinne einer Abgrenzung zu Spanien als im Sinne der Religionsfreiheit – die katholische Inquisition ab. Letztere wurde durch die spanischen Eroberer bereits im 15. Jahrhundert nach Lateinamerika gebracht (Birkenstock und Rüegg 2007: 14–22; Vogl 1998, Absatz 8f.). Mit der Unabhängigkeit Argentiniens wurde auch der Rechtskanon der jungen Republik geändert, in den nun auch Rechte für religiöse Minderheiten (sprich allen nicht-katholischen Religionen) aufgenommen wurden. Dies stellte die Grundvoraussetzung zur jüdischen Einwanderung nach Argentinien dar (Avni 1991: 1–5).

Obschon bereits im 17. Jahrhundert einige wenige Juden sephardischer und deutscher Herkunft in Argentinien angekommen waren, welche als Agenten britischer Handelskompanien arbeiteten, gab es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts keine nennenswerte jüdische Immigration nach Argentinien. Neben bis dahin unüberwindbaren praktischen Hürden, galt Argentinien in den Augen europäischer Juden immer noch als ein Vertreter der spanischen Kultur, was für einen Grossteil der europäischen Juden gleichbedeutend war mit Inquisition und Vertreibung (Vogl 1998, Absatz 13f.).

Prozession der jüdischen Gauchos

Erst 1889 kamen die ersten grösseren Gruppen jüdischer Einwanderer nach Argentinien. Grund dafür waren die zunehmenden Pogrome in Russland, wie auch eine neue Einwanderungskampagne der argentinischen Regierung, die nun auch die Kosten für die Überfahrt subventionierte und damit die praktischen Probleme der Einwanderer minderte. So kamen noch im selben Jahr 800 russische äußerst fromme und orthodoxe Juden in Buenos Aires an, die sich späterhin in der Region Santa Fe, etwa in dem bekannten Städtchen Moisesville, ansiedelten. Der Einwanderung der ersten grösseren Gruppe osteuropäischer Juden gingen bedeutende Verhandlungen mit dem jüdischen Philanthropen Baron Maurice Hirsch in Paris voraus. Baron Hirsch entschloss sich die Auswanderung der Juden aus Osteuropa zu fördern, obschon er selbst kein Zionist war. Er gründete 1891 die Wohlfahrtsorganisation «Jewish Colonisation Association». Durch die Anstrengungen des Baron Hirsch kamen so in den Folgejahren zehntausende Juden an den Rio de la Plata (Avni 1991, 24f.):

«By May 1890, the baron had realized that the [Russian] authorities were not prepared to encourage the integration of the Jews in Russian society and would use the money for their own ends. He had broken off the negotiations and decided to try another solution: emigration» (Avni 1991, 33).

Am Ende des 19. Jahrhunderts waren sowohl in den Städten als auch in den Kolonien lebendige jüdische Gemeinschaften entstanden (ebd., 44). Zwischen 1900 und 1940 nahmen sowohl die unabhängige, wie auch die durch sog. colonization associations gesponserte, jüdische Einwanderung immer weiter zu. In dieser Zeit kamen über 250.000 Juden ins Land, welche Argentinien zum zweitgrössten Empfängerland jüdischer Siedler machte. In Buenos Aires lebte nach New York die grösste jüdische Gemeinschaft. Und dennoch: auch in Argentinien stießen die europäischen Juden auf Ablehnung und Antisemitismus, was zeitweise auch wieder zur Abwanderung führte. Ein Grossteil der Juden, die sich erfolgreich in Argentinien niedergelassen haben, waren meist säkulare Juden, die sich nicht mehr – wie ihre Vorgänger – in religiösen Gemeinden organisierten, sondern in politischen, kulturellen und sozialen Zusammenschlüssen. Diejenigen von ihnen, die in Buenos Aires blieben, arbeiteten als Händler und Hilfsarbeiter, während diejenigen, die sich auf dem Land niederliessen, zu sog. jüdischen Gauchos wurden (Vogl 1998, Absatz 13f.).

Alberto Gerchunoff emigrierte 1889 mit seiner Familie von Russland nach Argentinien

Der Autor und Zeitzeuge Alberto Gerchunoff berichtet in seinen Erzählungen, die unter dem Titel Jüdische Gauchos ([1910] 2010) veröffentlicht wurden, über die Anfänge jener jüdischen Kolonien Argentiniens. In seinen Erzählungen beschreibt er die jüdischen Siedler als ein rechtschaffendes und beharrliches Volk, das seine jüdischen Wurzeln mit der Wiederentdeckung der historischen Lebensform als Bauern- und Hirtenvolk zurückgewinnen wollte. Gleichzeitig dokumentiert Gerchunoff eine Bewegung, die von der Illusion gleitet war, dass jüdische Bauern gleichberechtigte Staatsbürger Argentiniens sein könnten. Im Austausch für ein Leben in Freiheit und ohne Verfolgungen waren die jüdischen Gauchos dazu bereit, die Bräuche ihrer Vorfahren mit den lokalen, argentinischen Traditionen zu verbinden. Kurzum: man war dazu bereit sich zu assimilieren und eine gemeinsame nationale Kultur zu schaffen, die aus eben jenem kulturellen Austausch hervorging und nach und nach zum Markenzeichen des kosmopolitischen Argentiniens wurde. Doch schon einige Jahre nach Veröffentlichung seiner Erzählungen, 1919, erlebte Argentinien den ersten Pogrom (Gerchunoff 2010; Gerchunff 2002, 193):

«Lassen sie doch diesen Gauch; dem fällt immer eine Ausrede ein. Sehen sie ihn doch an: ein richtiger Gauch! Pluderhosen, Ledergürtel, ein Messer und sogar diese kleinen Bleidinger, um Perlhühner zu töten. Aber dagegen in der Synagoge, da ist er stumm und weiß nicht, wie man betet. Mein Sohn, der Schächter, hat ihn erzogen, und er weiß nicht, wie man betet!» (Gerchunoff 2010, 41)

III. Juden und der Tango

Viele der jüdischen Immigranten wurden trotz seines schlechten Rufs vom Hafenviertel in Buenos Aires mit seinen Bars und Bordellen magisch angezogen. Sie waren von der Hoffnung getrieben, dort unter Gleichgesinnten – die ebenfalls Fremde in einem fremden Land waren – für einen Moment lang von dem Gefühl der Wurzellosigkeit und Entrechtung Ablenkung zu finden. Und so schrieb Julio Nudler (Czackis 2004, 2; Nudler 1998), der bedeutendste Chronist des («jüdischen») Tangos, dass die «Juden und der Tango sich zum ersten Mal in jenen Bordellen ins Angesicht [blickten], die von der Varsovia und später in Zwi Migdal umbenannten grössten Zuhälter-Organisation am Rio de Plata betrieben wurden» (Laberenz 2009, 2; Reichart 1984, 57–58). Dank der Erfindung des Gramophons kamen aber nicht nur die Juden in Buenos Aires mit dem Tango in Kontakt, sondern auch die jüdischen Gauchos. Kurzum: Argentiniens moderne jüdische Gemeinde entstand zur gleichen Zeit wie der Tango selbst (Czackis 2004, 3–4).

Orquesta Tipica Bianco-Bachicha

In den Anfangsjahren, als der Tango noch als obszön galt und weitgehend verpönt wurde, waren nur wenige jüdische Musiker und Komponisten Teil der Tangoszene in Buenos Aires. Dies änderte sich jedoch merklich mit dem Eintritt der Guardia Veija, der Alten Garde (1910-1940). Bereits 1910 eroberte der Tango West- und Osteuropa im Sturm. In Ballsälen und Kabaretts in Paris, London und Berlin wurde Tango gespielt. Argentinische Ensembles tourten in Europa, darunter das Orquesta Tipica Bachicha, in dem einige jüdische Musiker, wie etwa der Bandoneoist Jose Schumajer und der Sänger Juan Carlos Cohan, tätig waren. Aber auch europäische Tango-Orchester wurden gegründet, wie etwa das Brodman-Alfaro Sextett. In den 1920er Jahren wurden sodann auch populäre Tangostücke in lokale Sprachen übertragen und europäisch-jüdische Komponisten wurden dazu inspiriert neue Tangos zu schreiben. Unter ihnen auch der Pole Paul Godwin (Pinchas Goldfarb), dessen Platten sich zwischen 1923 und 1933 über neun Millionen Mal verkauften (Czackis 2004, 5 – 6). Aber nicht nur die Musik des Tangos, sondern auch der Tanz selbst löste in Europa ein regelrechtes Tangofieber aus.

Davon, dass die Modetänze Tango und Charleston auch die osteuropäischen Shtetl erobert hatten, spricht zum Beispiel das Lied «Kum Lejbke, Tantsen», das von dem Tischler Mordechaj Gebirtig (1877 – 1952) geschrieben wurde. Gebirtig verfasste in seiner Freizeit Gedichte und Lieder, die nicht nur unter den polnischen Juden sehr beliebt waren, sondern auch von Auswanderern bis nach Amerika und Argentinien verbreitet wurden (Capol 2005, 26). So heisst es in der ersten Strophe von Gebirtigs jiddischem Tango (ebd., 27):

Lejbke majn liber, doss wet kejn gutssnischt gebn, du
brengst mit dajn akschoness mich fun geduld arojss.
Du mustsich lernen tantsn ich schwer baj undser leben,
ele nischt is hajnt noch mit unds ojss.
Megsst sich sajn woss du bisst: a farbrenter zijenisst,
a bundojez. Wemen gejt doss on?

Ale isstn sajt a zajt, un ojch di agode lajt tantsen tango un tscharlesston.

Mein lieber kleiner Leo, das kommt nicht gut heraus.
Deine Starrköpfigkeit bringt mich noch um den Verstand.
Du musst tanzen lernen, ich schwör‘s bei meinem Leben.
Wenn nicht, so ist es heute noch mit uns aus.
Was du auch immer sein magst, ein verbohrter Zionist,
ein Bundist oder sonst ein –ist, was kümmert es mich?

Auch die frommen Leute tanzen Tango und Charleston.

In den 1920er und 1930er Jahren, als der Tango über seinen Umweg über Europa sich auch in seinem Mutterland höchster Beliebtheit erfreute, und vom Unterschichtmilieu der Einwandererquartiere in die argentinische Oberschicht aufstieg, erlangten auch jüdische Tangomusiker und -komponisten einen grösseren Einfluss auf die argentinische Tangoszene. Grund dafür war, dass zur gleichen Zeit auch die jüdische Gemeinschaft in Buenos Aires einen Aufschwung erlebte. Jiddischsprachige Zeitungen erschienen und zahlreiche jüdische Kulturzentren und vor allem jiddische Theater wurden gegründet. Dies führte dazu, dass Argentinien zu einem bedeutenden Reiseziel amerikanischer und osteuropäischer Theaterkompanien wurde. Bis in die 1960er Jahre hinein war Bueonos Aires eine der Welthauptstädte des jiddischen Theaters (Gelfand 2005; Czackis 2004, 4 – 6).

Ausschnitt: Plakat des Yiddish Theater of New York

Mit den Theaterleuten reisten auch jüdische Musiker (meist Violinisten) aus Polen, Russland und Rumänien nach Argentinien, die kurz nach ihrer Ankunft bereits Zutritt zur Tangoszene suchten. Ihr Ziel war es, in einem der vielen Tango-Orchester mitzuspielen. Viele dieser Musiker wurden zu Stars und fanden gleichzeitig Akzeptanz in der argentinischen Gesellschaft. Wie Llioca Czackis schreibt, waren Juden und Nicht-Juden dazu in der Lage, sich ein- und dieselbe musikalische Sphäre zu teilen, was wiederum Raum für gegenseitige musikalische Bereicherung schuf. So schrieben jüdische Texter und Komponisten nicht nur Tangos mit spanischen Liedtexten für die Allgemeinheit, sondern vermehrt auch solche mit jiddischen Lyrics, die vor allem in der jiddischen Theaterszene in Buenos Aires reißenden Absatz fanden. Jüdische Tangosänger, wie etwa Jevel Katz oder Max Perlman, sangen humoristische wie auch leidenschaftliche jiddische Texte zu Tangorhythmen und teils schon burlesken Melodien (Czackis 2004, 4 – 5).

Im Vergleich zum «Tango Argentino» fällt jedoch auf, dass der jiddische Tango lediglich im Refrain auf den typischen Tangorhythmus, dem meist unregelmäßigen, synkopierten 4/8-Takt), zugreift, was die jiddischen Lieder auch erst dann als einen Tango erkennbar werden lässt. Doch dies ist nicht das einzige Unterscheidungsmerkmal des jiddischen Tangos. Trotz der Übernahme des lokalen Kolorits in den Tangokompositionen jüdischer Musiker und der oben erwähnten Bereitschaft sich im Austausch für ein besseres Leben zu assimilieren, manifestiert sich im jiddischen Tango eine ethnische, religiöse, wie auch linguistische und gar geographische Differenz. Und es offenbart sich schon beim ersten Hören, dass sich ein Großteil der jiddischen Tangos musikalisch in einem Raum zwischen Argentinien und Osteuropa bewegen, bzw. dass sie sich als eine musikalische Nachahmung lateinamerikanischer sowie Klezmer Traditionen zu verstehen ist. So wundert es auch nicht, dass die Spielweise des Liedes der alten Dame, dem Tango «So easily assimilated», aus dem Musical Candide (Uraufführung 1956) von Leonard Bernstein mit der Bezeichnung «Moderato Hassidicamente» versehen wurde (Rovner 2006, 312 – 13). Sowohl im Text als auch im Lied spiegelt Bernsteins Tango, selbst mit einem Augenzwinkern, die Geschichte der Juden in ihrer neuen Heimat und dem zweifelhaften Versuch Teil der Mehrheitsgesellschaft zu werden wieder. So heißt es in dem Lieder der alten Dame (Lyrics in Wells 2000, 12):

I was not born in sunny Hispania.
My father came from Rovno Gubernya
But now I’m here, I’m dancing a tango:
Di dee di!
Dee di dee di!
I am easily assimilated.
I am so easily assimilated.
I never learned a human language.
My father spoke a High Middle Polish.
In one half-hour I’m talking in Spanish:
Por favor! Toreador!
I am easily assimilated.
I am so easily assimilated.

Molly Piccon

Das jiddische Theater wurde zu einem wesentlichen Bestandteil des kulturellen Lebens der jüdischen Einwanderer – und das nicht nur in Buenos Aires, sondern auch in den USA. Der Charakter des Tangos passte perfekt zu den unbeschwerten jiddischen Musicals, wie sie in den Vorkriegsjahren auch in New York aufgeführt wurden. Eine der populärsten Figuren des New Yorker Yiddish Theater war die Theater- und Filmschauspielerin Molly Picon. 1934 schrieb sie die Lyrics zu dem bekannten Lied «Oygn», das sie selbst in Jacob Kalichs Produktion «Eyn mol in leben» performte. Ihr Text wurde von Abraham Ellstein als Tango vertont (Czackis 2004, 4 – 5).

a. Die Entstehung des jiddischen Tangos

Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich der Tango in mehreren Schüben weltweit verbreitet und dabei nicht nur nationale, sondern auch kulturelle und soziale Grenzen überschritten. So führt die Vermischung kultureller Eigenschaften im Tango gleichzeitig auch zur Herstellung von kultureller Differenz. Auf diese Weise wurde der Tango zu einem globalen Narrative und zu einem weltweiten Verständigungs- und Deutungsmittel (Klein 2009, 39 – 54). Es ist wohl der multikulturelle Charakter des Tangos, der erklärt, warum sowohl die Musik als auch die Liedtexte und der Tanz auf seiner Reise um die Welt von so vielen Menschen rezipiert und schliesslich auch transformiert wurde. So wundert es nicht, dass manche auch Gemeinsamkeiten zwischen dem Tango und der jüdischen Volksmusik sehen, wie etwa die klagenden Liedtexte, der auffallende Gebrauch der Violine oder die unerklärliche Sehnsucht, welche den Raum erfüllt, wenn man diese Musik hört. Oder wie der Flötist Pablo Goldstein es einmal ausdrückte:

«[T]ango and Jewish music continue to share an essentially bittersweet quality — a quality that he perceives even when playing an upbeat klezmer freilach. […] The freilach is like a costume, and the sadness is inside. […] The tango is the same. But without the costume» (Zit. nach Gelfand 2005).

Es ist eben jene Melancholie der Musik und das Gefühl von Heimatlosigkeit und Ausgrenzung, das der Tango verkörpert, von denen sich die jüdischen Musiker und Komponisten in Europa angesprochen fühlten, bzw. worin sie sich selbst wiederfanden (ebd.). Ebenso, wie der Tango Argentino schon von Beginn an ein Ventil war, um Kummer, Unglück und Elend zu verarbeiten, so sang auch der jiddische Tango schon früh von verwandten Schicksalen: von den Schwierigkeiten der Liebe, den verlassenen Männern und der Hoffnung – wenn schon nicht auf eine bessere Zukunft, so doch wenigstens auf die Nacht mit einer begehrenswerten Frau.

Abseits von den Bühnen des jiddischen Theaters in Buenos Aires und New York erreichte der jiddische Tango für die europäischen Juden seinen Höhepunkt jedoch während des Holocausts, als er zu einem wesentlichen Teil des Lebens in den Ghettos und Konzentrationslagern wurde. Auch hier wurde der Tango erneut als ein Vehikel verwendet, um die Erfahrungen der Häftlinge und deren Hoffnungen auf Freiheit zum Ausdruck zu bringen. Vor allem aber waren die jiddischen Lieder im Ghetto für die Inhaftierten «eine emotionale und moralischen Stütze, um das Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten», sie waren «ein Stück Identität, die sie zu bewahren – und auch neu zu definieren suchten» (Ruttner 1992, 123). Jenseits der eher spärlich existierenden spanischsprachigen Literatur zum jüdischen bzw. jiddischen Tango allgemein sind vor allem die Arbeiten von Victoriah Szirmai, Juden im Tango = jüdischer Tango? (2006), und der bereits erwähnten Sängerin Llioca Czackis, welche sie unter dem Titel Tangele: The History of Yiddish Tango (2003), wie auch auf ihrer CD «The Pulse of Yiddish Tango» (2008) veröffentlicht hat. Vor allem Czackis beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit dem jiddischen Tango vor und während des Holocausts.

b. Tango vor und während des Holocausts

Jiddische Tangos entstanden sowohl vor als auch während des Zweiten Weltkrieges. Im Vergleich zu Ländern wie Frankreich, England oder Deutschland, welche häufig von argentinischen Orquestas Tipicas besucht wurden, erreichte der Tango Osteuropa auf eher indirektem Wege. Polen und Russland machten lediglich durch Schallplatten, Radio und Journale mit dem Tango Bekanntschaft. Dieser indirekte Kontakt mit dem Tango Argentino mag erklären, warum sich in Osteuropa ein eigener Tangostil entwickelte, welcher sich merklich von seinem lateinamerikanischen Vorbild unterschied. Aber dennoch wurde Polen in den 1920er Jahren zu dem Zentrum des europäischen Tangos. In jener Zeit waren die meisten Musiker sowohl in der klassischen, wie auch in der populären Musikszene jüdisch. Diese waren wiederum gezwungen, für sich und ihre Musik einen Mittelweg zwischen der jüdisch-traditionellen Welt und dem Leben in den säkularen, modernen Großstädten Osteuropas zu finden (Czackis 2004). Der jiddische Tango, wie er in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg in Osteuropa entstand, beschreibt eben jenen Mittelweg, bzw. kulturellen Kompromiss, in dem er den globalen Sound des Tangos mit dem lokalen Kolorit der jiddischen Sprache in Einklang bringt. Künstler, die sich bereits vor dem Krieg in der osteuropäischen Tangoszene einen Namen gemacht haben, waren beispielsweise der Violonist Paul Godwin und die Komponisten und Swingband-Dirigenten Henryk und Arthur Gold.

Ein Beispiel für einen sog. «Vorgkriegstango» ist das Stück «Tsi darf es azoy zayn?» («Muss es so sein?»), dessen ursprünglicher Text von Moshe Broderson und Musik von Dovid Beygelman geschrieben wurden. Dies ist einer der bekanntesten jiddischen Tangos in Osteuropa, nicht zuletzt, weil er ein fester Bestandteil des Programms des jiddischen Revuetheaters «Ararat» in Lodz war. Dieses Lied wurde späterhin von Katriel Brydo (1907-1945), dem Direktor des Wilnaer Ghetto Theaters, mit einem neuen jiddischen Text versehen (Czackis 2004).

«Tsi darf es azoy zayn?»

Mit dem Aufkommen des Zweiten Weltkrieges und der Shoah war der Tango zweifelsohne einer der beliebtesten Gesellschaftstänze in Europa. So wundert es nicht, dass er auch in den Ghettos und Konzentrationslagern der Nationalsozialisten wiederzufinden war. In diesem Kontext erfüllte der Tango, in gleichem Maße wie die Lagerkapellen allgemein, zweierlei Funktionen:

1) Neben einer Reihe anderer Musiken, wie Milan Kuna in seinem Buch Musik an der Grenze des Lebens (1998) beschreibt, wurde auch der Tango von den Nationalsozialisten als ein makabres «Mittel zur Beruhigung» in den KZs eingesetzt, und zwar immer dann, wenn Selektionen stattfanden. Gleichzeitig fand der Tango aber auch Eingang in das Repertoire der Lagerkapellen in Auschwitz, Theresienstadt, Mauthausen, Dachau und Buchenwald. Diese Lagerkapellen waren aus jüdischen Häftlingen improvisatorisch zusammengesetzt Ensembles, die zu verschiedenen «Anlässen» aufspielen mussten.

2) der jiddische Tango diente aber vor allem auch als ein Medium zur Selbstdarstellung und des Selbsterhalts jüdische Häftlinge. Etliche der in dieser Zeit entstandenen Tangotexte klagen über das Leben in den Ghettos von Warschau und und Krakau, handeln von den Schrecken von Bialystok und Lodz und erzählen von den Todeslagern, sowie von einer Welt, die nicht hinsehen wollte (Czackis 2004, 8f.; Kuna 1998, 42 – 47).

Wie Franz Ruttner schreibt, boten die Lieder in den Ghettos aber auch die Möglichkeit, sich für einen Moment der Realität und Einsamkeit zu entziehen. Weiterhin ermöglichte das Schreiben und Singen von Liedern sich mit der eigenen Situation auseinanderzusetzen und zeitgleich der Nachwelt ein Zeugnis über das Leben im Ghetto zu hinterlassen (Ruttner 1992, 123).

Die Nazioffiziere erkannten die Vorteile, die der Tango mit sich brachte. In ihren Augen erzeugten weder die Musik noch der Tanz des Tangos eine rebellische Stimmung, sondern stellte dem Hörer eher eine mentale Fluchtmöglichkeit zur Verfügung. Der Tango bot keinen Anreiz zu Ungehorsam und Auflehnung, sondern verführte den Hörer zum bereitwilligen Vergessen seiner selbst, weshalb die Nationalsozialisten diese und andere Musik gerne auch bei Hinrichtungen spielen ließen. Paul Celans Gedicht «Todesfuge», das im Mai 1947 in dem Bukarester Magazin Contemporanul unter dem Titel «Tangoul mortii» veröffentlicht wurde, beschreibt (wie etwa in der letzten Strophe) jene grausigen Szenarien in den Lagern (Czackis 2004, 8 – 9; Kuna 1998, 31 – 36):

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland

dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith (Celan 2004, 12)

Die Lieder, die von den jüdischen Gefangenen in den Ghettos und Konzentrationslagern während des Krieges geschrieben wurden, reproduzierten den Stile und den Rhythmus jener, vor allem westlichen, Musiken, die in den jeweiligen Herkunftsländern der Häftlinge vor dem Holocaust populär waren – allen voran der Tango, welcher in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg eine Hochzeit erlebte (Ruttner 1992, 124). Die Liedtexte wurden so, neben Hebräisch und Jiddisch, den gemeinsamen Sprachen der aschkenazischen Juden, ebenfalls in den europäischen verschiedensten Sprachen verfasst.

In in seinem Buch Ess firt kejn weg zurik... (1992) ordnet Franz Ruttner neben denen im Folgenden besprochenen Liedern auch weitere Stücke dem jiddischen Tango zu, die in anderen Abhandlungen zum Thema nicht erwähnt werden (Ruttner 1992, 124). Ein Grund dafür mag sein, dass ein Grossteil der jiddischen Tangos, die in den Ghettos und in den KZs entstanden sind, eine Kontrafaktur jiddischer Vorkriegshits sind. So wurde beispielsweise die Melodie des bekannten Hits des New Yorker jiddischen Theaters «Papirosen» von der 18-jährigen Rikle Gleser mit einem neuen Text versehen. Der Tango «Es iz geven a zumertog» («Es war an einem Sommertag») beschreibt die traumatische Gründung des Ghettos in Wilna und die Massenermordung der Juden in Ponar. Die Autorin des Liedtextes, Rikle Gleser, konnte sich von einem Deportationszug retten und überlebte den Krieg als Mitglied der Partisanen (Ruttner 1992, 125, 134). Die Musik stammt von Hermann Jablokow (Czackis 2004).

Video nicht mehr verfügbar

Es iz geven a zumer-tog
Vi shtendik zunik-sheyn,
Un di natur hot dan gehat
In zikh azoyfil kheyn,
Es hobn feygelekh gezungen,
Freylekh zikh arumgeshprungen,
In geto hot men undz geheysn geyn.

Okh shtelt zikh far vos s’iz fun undz gevorn!
Farshtanen hobn mir: s’iz alts farloyrn.
Nisht geholfn undzer betn,
Az s’zol emitser undz retn-
Farlozn hobn mir dokh undzer heym.

[…] Gevezn zaynen mir tsufil –
Bafoyln hot der har
Tsu brengen yidn fun arum
Un shisn oyf Ponar.
Pust zaynen gevorn shtiber,
Ober ful derfar di griber.
Der soyne hot dergreykht zayn groysn tsil.

Oyf Ponar itst zet men oyf di vegn
Zakhn, hitlen durkhgenetst fun regn,
Dos zaynen zakhn fun karbones,
Fun di heylike neshomes,
Di erd hot zey oyf eybik tsugedrekt.

Un itst iz vider zunik-sheyn,
Shmekt prakhtful alts arum,
Un mir zaynen farpaynikte
Un laydn ale shtum.
Opgeshnitn fun der velt,
Mit hoykhe moyern farshtelt,
A shtral fun hofnung dervekt zikh koym.

It was a summer’s day,
As always beautifully sunny,
And nature had within it
So much charm.
Birds were singing
Cheerfully hopping around,
As we were ordered into the ghetto.

Oh, imagine what became of us!
We understood: all is lost,
Our pleas were of no help
Asking for someone to rescue us,
We had deserted our home.

[…] We were too many –
The master ordered
Jews to be brought from the vicinity,
And be shot at Ponar.
The houses were emptied,
But the ditches were filled.
The enemy had attained his desired goal.

Now at Ponar one can see on the roads
Things, hats soaked by the rain.
These are the belongings of the victims.
Of the holy souls,
Which the earth has covered forever.

And now, once more, it is beautifully sunny,
A wonderful smell all around,
And we are full of grief,
And we all suffer in silence.
Cut off from the world,
Hidden behind high walls,
A ray of hope barely stirs.

Neben anderen Liedgattungen entstanden jedoch auch Originalkompositionen jiddischer Tangos, sowohl in Text als auch Musik, von denen die meisten jedoch mit ihren Autoren vernichtet wurden. Von hunderten von Liedern sind nur einige wenige in Sammelbänden erhalten geblieben. Eine der wichtigsten Sammlungen jiddischer Tangos des Holocausts ist die Anthologie Lider fun di getos und lagern von Shmerke Kaczerginski (1908-1954), welche 1948 in New York veröffentlicht wurde. 

Avraham Sutzkever (links) und Shmerke Kaczerginski, Mitglieder des jüdischen Untergrunds im Ghetto von Vilnius (Vilna).

Dieses Buch beinhaltet neben Viehlzahl jiddischer Stücke auch Lieder im Tangorhythmus, wie sie in den Ghettos und Lagern in Wilna, Kaunus, Lodz, Bialystok, Shauliai und Auschwitz gespielt und gesungen wurden:

«Die Lieder des Ghettos sind Dokumente der Opfer. Sie spiegeln deren Ängste und Wünsche, ihre Verzweifelung und Hoffnung in ausdrucksvoller Weise wider. Gerade aus Wilna ist von ihnen eine derartige Fülle erhalten geblieben, daß sich beinahe die ganze Geschichte des Ghettos durch sie darstellen läßt» (Freund, Ruttner und Safrian 1992, 13).

Wie Czackis schreibt, leitet sich die Stimmung dieser Lieder von dem Charakter der Tangos ab, die vor dem Krieg in Osteuropa entstanden waren, und welche sich grundlegend von dem argentinischen Tango unterscheiden. Einer dieser original jiddischen Tangos ist das Stück «Friling» dessen Text von Kaczerginski, dem Autor der oben genannten Anthologie, selbst geschrieben wurde. Kaczerginski schrieb dieses Gedicht nach dem Tod seiner Frau im Ghetto von Wilna. Vertont wurde es durch eine lyrische Tangomelodie von Abraham Brudno (Czackis 2004, 9f.). «Friling» ist zudem eines der wenigen Liebeslieder, die in den Ghettos geschrieben wurden, wie Rutter (1992), beschreibt. Kaczerginskis Lied zählte daher zu einem der beliebtesten Lieder im Wilnaer Ghetto, welches «wie ein Volkslied gesungen» wurde, was nicht zuletzt auch daran liegen mag, dass er das Lied für die Theaterrevue «Di Joginesch in fass», welche im Wilnaer Ghetto aufgeführt wurde, geschrieben hat (Ruttner 1992, 126, 150).

Ikh blondzhe in geto fun gesl tsu gesl,
un ken nisht gefinen keyn ort;
nishto iz mayn liber, vi trogt men ariber?
mentshn, o zogt khotsh a vort.
Es laykht? oyf mayn heym itst, der himl der bloyer,
vos zhe hob ikh itst derfun?
ikh shtey vi a betler bay yetvidn toyer,
un betl, a bisele zun.

Friling, nem tsu mayn troyer,
Un breng mayn libstn, mayn trayen tsurik.
Friling, oyf dayne fligl bloye,
O, nem mayn harts mit un gib es op mayn glik.

Ich irre im Getto von Gasse zu Gasse und kann keinen Ort finden.
Nicht da ist mein Lieber, wie erträgt man es?
Menschen, o sagt wenigstens ein Wort.
Es lacht über meinem Haus jetzt der Himmel der blaue, was hab ich jetzt davon?
Ich stehe wie ein Bettler bei jedem Tor, und bitte für ein bisschen Sonne.

Frühling, nimm meine Trauer zu dir
und bringe meinen Liebsten, meinen Treuer zurück.
Frühling, auf deinen blauen Flügeln,
oh nimm mein Herz mit und gib es meinem Glück…

In den Liedtexten der jiddischen Tangos, die während des Zweiten Weltkrieges entstanden waren, beschreiben die Autoren auf eine eloquente Art und Weise – welche zugleich frei ist von Sentimentalität – die Erfahrungen der jüdischen Gefangenen, wie etwa überfüllte Ghettos, Mangel an Nahrungsmitteln, sowie das Gefühl der Unterdrückung et. Besonders die Kontrafaktur-Tangos werfen neues Licht auf den argentinischen Tango selbst. Der elegante Charakter und die exotische Romantik des Tangos werden hier zu einem Symbol des geistigen Widerstandes transformiert. So sind die jiddischen Tangos nicht nur ein Zeugnis des Einfallsreichtums und der Kreativität ihrer Autoren, die unter inhumanen Konditionen leben mussten. Sie sind vielmehr ein Symbol für den Willen zu überleben (Czackis 2004, 9f.)

IV. Schluss

In diesem Beitrag wurde die Reise und Entwicklungsgeschichte des Tangos von seinen Anfängen in den Einwanderer-Quartieren in Buenos Aires, nach Europa und ans New York Yiddish Theatre skizziert. Gleichzeit wurde gezeigt, wie jüdische Musiker der Musik des Tangos ihren eigenen Stempel aufdrückten und den jiddischen Tango schufen, und wie sie weiterhin den Tango als ein Vehikel nutzen, um Kummer und Leid des Holocausts zu verarbeiten.

Aber dennoch: Kann man nun tatsächlich auch von einem jüdischen, und nicht nur einem jiddischen Tango sprechen? Victoriah Szirmai (2006) stellt in ihrer Arbeit zu Juden im Tango zurecht die Frage ob «ein Tango, nur weil er von jüdischen Musikern gespielt wird, jüdisch» (Szirmai 2006, 13) sei, denn schliesslich besteht durch Zuweisung jüdischer Eigenschaften zu Musiziersphären, die Gefahr, dass ein verkappter Rassismus reproduziert wird, so ein Rezent ihrer Arbeit (Szirmai 2006). Andererseits, wenn man von einem jüdischen Tango spricht, so müsse man auch von einem italienischen oder spanischen Tango sprechen, was jedoch in der Tangoliteratur eher nicht der Fall ist. In gleicher Weise sollte man auch zögern, dem Tango eine ungebrochenen «Argentinizität» zuzuweisen (Szirmai 2006, 14).

Obschon Szirmai mit ihrer Argumentation richtig liegt, so liegt meiner Ansicht nach die Antwort auf die Frage, ob es neben einem jiddischen auch einen «jüdischen Tango» gibt, woanders. Der Tango ist nämlich einmal mehr ein Beispiel für die Tendenz jüdischer Musikschaffender, die immer wieder die kulturellen Phänomene ihrer Umgebungskultur adaptieren. Und so war der Tango für die Juden schon immer ein Medium zur Selbstdarstellung, und im Falle der Ghettos und KZs ein Mittel zum Selbsterhalt, das verwendet wurde, um diverse Gefühle wie Liebe und Romantik, aber auch Erfahrungen wie soziale Unsicherheit und die Schrecken des Holocausts zum Ausdruck zu bringen (Czackis 2004, 10 – 11).

Und so sehen zum Beispiel Eduardo Makaroll und Philippe Cohen-Solal der Musikgruppe «Gotan-Project» heute noch viele Berührungspunkte zwischen dem Tango und den Juden. Die beiden Vertreter des Electro-Tangos sind der Meinung, dass der Tango sehr jüdisch ist, und dass das Feeling von Tango dem des Klezmer und des jiddischen Liedes sehr ähnlich ist. Cohen-Solal erklärte in einem Zeitungsinterview mit der Jüdischen Illustrierten (24. Juni 2010): «Meine jüdischen Wurzeln kommen unter anderem zum Tragen, wenn es melancholisch wird […]. Tango ist wunderbar melancholisch» (Interview 2010, 11).

Neben Llioca Czackis verleiht auch die argentinisch-jüdische Sängerin Zully Goldfarb dem jiddischen Tango wieder eine neue Stimme. Auf ihrer CD «De donde vienne mi voz» («Woher meine Stimme kommt») singt sie Tangos in der Sprache ihrer Eltern und Grosseltern. Jiddisch ist die Sprache, so Goldfarb, «die mit der wehmütigen Arme-Leute-Musik Argentiniens zu jiddischen Tangos zusammenfand und eine ideale Liaison bildet» (Interview 2010, 12).

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Der Artikel basiert auf einem gleichnamigen Vortrag, der im Rahmen der Veranstaltung «Milonga Plus» am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel am 19.11.2011 gehalten wurde.

Biography

Sarah Ross ist seit Dezember 2009 Assistentin für Kulturelle Anthropologie der Musik am Institut für Musikwissenschaft der Univeristät Bern. 2010 promovierte sie an der Hochschule für Musik und Theater Rostock zum Thema «Performing the Political in American Jewish-Feminist Music». Derzeit arbeitet sie an ihrer Habilitationsschrift zu jüdischer Musik in der Schweiz. Ihre weiteren Forschungsinteressen umfassen die Themengebiete Musik & Gender, Musik & Religion sowie Kognitive Ethnomusikologie.

Published on September 07, 2012

Last updated on October 08, 2020

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